Beisetzung von Obdachlosen: Unbekannt bestattet
„Im Hause des Vaters gibt es viele Wohnungen“, spendet Bruder Markus in seiner Traueransprache Trost. Im Leben hatten die Verstorbenen kein Obdach.
KÖLN / BERLIN taz | Der kleine Mann mit den eingefallenen Wangen schließt die Augen. Langsam führt er eine Mundharmonika an den Mund, ein feierlicher Moment, doch der erste Ton kommt scheppernd heraus. Um ihn herum haben sich etwa 20 Menschen geschart, die zur Mundharmonika den Choral „Wahrer Gott, wir glauben Dir“ anstimmen.
Ihre Stimmen klingen dumpf zwischen den vom Regen triefenden Tannen. Eine ältere Frau beginnt stumm zu weinen. Ein Mann hält eine gelbe Plastiktüte mit bunten Kunstblumen in der Hand, neben ihm hat jemand seine abgewetzte Schildmütze abgezogen und singt inbrünstig mit.
Es ist der erste November, Allerheiligen. Die kleine Trauergemeinde sind Obdachlose aus Köln, die wie jedes Jahr auf dem Grabfeld der „Interessengemeinschaft zur Bestattung obdachloser Menschen“ auf dem Kölner Südfriedhof ihrer in den letzten Monaten verstorbenen Kumpel gedenken. Einigen sieht man an, dass sie viel erlebt haben, dass sie ihre Nächte teilweise draußen verbringen. Doch es sind auch andere Menschen aus der Szene gekommen: Ein kleiner Männerchor singt zwei Stücke, etwas abseits hören andere der Predigt von Bruder Markus zu.
Für Menschen, die in Deutschland nicht für ihre Bestattung aufkommen können, gibt es zwei unterschiedliche Bestattungsformen.
Sozialbestattungen sind Beerdigungen, deren Kosten sich Angehörige gar nicht oder nur teilweise leisten können, zum Beispiel wenn sie Hartz IV erhalten. In solchen Fällen übernehmen in der Regel Sozialämter die Bestattergebühren. Die Leistungen variieren je nach Stadt zwischen 750 Euro (Berlin) und 4.100 Euro (Heilbronn).
Ordnungsbehördliche Bestattungen sind ein Sonderfall der Sozialbeisetzungen. Hierfür sind meistens die kommunalen Ordnungsämter zuständig. Sie veranlassen diese Beisetzungen, wenn die Angehörigen des Verstorbenen nicht auffindbar sind. In Berlin wurden in diesem Jahr bis August 1.472 Menschen ordnungsbehördlich beigesetzt. (cem)
Bruder Markus ist beim Katholischen Stadtdekanat Köln für die Obdachlosenarbeit zuständig und wirkt zum vierten Mal bei der Gedenkzeremonie an Allerheiligen mit. „Wir wollen uns an die erinnern, die unter uns gelebt haben, ohne mit uns zu sein“, sagt er. Denn Menschen, die auf der Straße lebten, würden oft nur zufällig den gesellschaftlichen Halt verlieren. Und wenn sie auch zu Lebzeiten kein Dach über dem Kopf hatten: „Im Hause des Vaters gibt es viele Wohnungen“, sagt er und blickt in die Runde der Versammelten. Mehr Männer als Frauen sind gekommen.
Jede Komune für sich
Es ist nicht offiziell erfasst, wie viele Obdachlose im Jahr in Deutschland sterben. Wer die Zahl genauer wissen möchte, muss sich an die Kommunen wenden; das Kölner Ordnungsamt hat im vergangenen Jahr die Bestattung von 535 Menschen veranlasst. Stadtverwaltungen bestellen diese sogenannten ordnungsbehördlichen Beisetzungen, wenn keine Angehörigen des Verstorbenen auffindbar sind. Und das ist bei fast allen Obdachlosen der Fall – manche von ihnen haben bewusst mit ihrem Umfeld gebrochen, wollten raus aus dem sozialen Gefüge mit seinen Zwängen. Andere haben gar keine Angehörigen mehr, die sich um sie kümmern könnten.
Es wird still am Gemeinschaftsgrab am Kölner Südfriedhof. Eine Ordensschwester in schwarzem Ornat verliest die Namen derer, die in diesem Jahr obdachlos verstorben sind. Da ist der Mann, der am 6. Februar unter der Severinsbrücke in der Kölner Südstadt erfroren ist, es gibt den „Mann mit dem großen Einkaufswagen, der im November Krach auf der Straße hatte“ und kurz darauf im Krankenhaus starb. Schicksale, die außerhalb der Szene unbekannt bleiben und die an diesem Tag einen Namen erhalten.
Nach der Trauerfeier bleibt ein großer, hagerer Mann am Grabfeld stehen. „Seit einiger Zeit schlafe ich nachts nicht gut“, sagt Heinz Bernhard, der sich selbst „der Mercator“ nennt. Die grauen Haare hat er zum Zopf gebunden. Zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmt ein Zigarillo, der vom Regen ausgegangen ist. Seine Hände zittern stark. Der 64-Jährige erzählt, dass er in seinem Leben zwei Schlaganfälle erlitten habe und viele Jahre im Gefängnis gewesen sei. „Aber Angst vor dem Tod hatte ich noch nie“, sagt er und lacht zahnlos. Er hänge nicht besonders am Leben. Er deutet auf eine der Marmorplatten auf dem Grabfeld und sagt: „Hier komme ich auch mal hin.“
Köln zahlt mehr als Berlin
Obdachlose melden sich in der Regel nicht an, wenn sie in eine neue Stadt kommen. Deshalb kümmert sich um ihre Bestattung die Kommune, in der sie sterben. Maximal 1.465 Euro zahlt die Stadt Köln für solche Begräbnisse. Für dieses Geld stellen Bestattungsunternehmen einen Sarg sowie ein schlichtes Kreuz und erledigen den Papierkram. Alles was darüber hinaus geht, wird auf dem Kölner Südfriedhof von der spendengetragenen Initiative zur Bestattung obdachloser Menschen finanziert. Die Gruppe – zwei Pfarrer aus der katholischen Severinsgemeinde, Aktive aus der Obdachlosenhilfe und ein Bestatter – ermöglicht das, wofür die Stadt nicht aufkommt: einen Grabstein mit Inschrift und eine größere Trauerfeier.
Mit ihren Leistungen liegt die Stadt Köln bundesweit im Mittelfeld. Weitaus weniger zahlen die Behörden in Berlin. Die Pauschale für Bestatterleistungen bei ordnungsbehördlichen Begräbnissen liegt hier bei lediglich 750 Euro.
Mit Grabrede und Orgelmusik
„Was da passiert, ist eine Fortsetzung dessen, was zu Lebzeiten mit diesen Menschen geschah“, sagt Jürgen Quandt. An einem Donnerstagmorgen stapft der Vorsitzende des Evangelischen Friedhofsverbands Berlin-Stadtmitte durch das Laub der Friedhöfe vor dem Halleschen Tor in Berlin-Kreuzberg. Er geht an grauen, aus Granit gehauenen Familiengruften vorbei, die in der Herbstluft wie glattpoliert wirken. Viele Erbbegräbnisse an der Innenseite der Friedhofsmauer werden schon lange nicht mehr gepflegt. Efeu rankt sich um jahrhundertealte Grabinschriften, daneben haben nächtliche Eindringlinge mit Sprühdosen ihre Parolen an die Wand geschrieben. Quandt geht daran vorbei, hält erst weiter hinten bei einem etwa zehn Quadratmeter großen Sammelgrab an.
33 Namen stehen dort in erhabener goldener Schrift auf einer schwarzen Marmorplatte. Es sind Namen von Wohnungs- und Obdachlosen, die auf Initiative der Kirchengemeinde hier begraben wurden – mit Orgelmusik, Grabrede und Beisetzung in größerer Runde, all den Dingen, die sonst nicht stattfänden, weil kein Geld für diese Toten vorhanden oder vorgesehen ist. „Man kann nicht behaupten, dass unsere Gesellschaft mit Menschen am Rande gut umgeht“, sagt Quandt. Wer in der Hauptstadt auf der Straße lebt und unbekannt stirbt, wird anonym beigesetzt.
Solche Beerdigungen gibt es auf vielen Friedhöfen in Berlin. „Ich habe schon erlebt, dass nicht nur ein Begräbnis für eine Person stattfindet, sondern gleichzeitig mehrere Urnen beigesetzt werden“, sagt Quandt. In der Regel sind die Namen der in einem Sammelgrab Bestatteten nur auf einer Stele verzeichnet. Quandts ehemalige Gemeinde in Kreuzberg hat deshalb im August 2002 ein Familiengrab auf den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor erworben. Obdachlose Menschen, die die Wärmestube der Kirche besucht haben, können seitdem dort beerdigt werden. Mit jeder weiteren Urne kommt ein neuer Schriftzug auf die Marmorplatte und ist damit ein Bezugspunkt für diejenigen, die zurückbleiben. Auch wenn es nicht die eigenen Angehörigen sind – die Freunde aus der Wärmestube bilden eine Familie, für die Verstorbenen und für sich selbst.
Die Urne von Ronny
Trotzdem bleibt der Tod vieler Obdachloser unbeachtet, wenn sie konfessionslos waren. Gottlos, obdachlos, anonym. Marcel Heinen will das nicht noch einmal erleben. Der 33-jährige Obdachlose besucht manchmal die Wärmestube in der Kreuzberger Cuvrystraße. In dem kleinen Raum ist es stickig, es riecht nach Eintopf. Heinen schlängelt sich durch die Tischreihen, vorbei an bärtigen Männern, die mit ihrem Besteck klappern, und zwei älteren Schach spielenden Herren. Heinen nimmt im Nebenraum Platz und beginnt zu erzählen, von seinem Kumpel, der vor fünf Jahren an Organversagen gestorben war: Ronny. Der 28-Jährige hatte keine Angehörigen, die nach dem Tod für ihn hätten sorgen können, deshalb haben die Behörden seine Bestattung veranlasst. Er wurde auf einem Neuköllner Friedhof begraben.
„Ronny hatte einfach den falschen Umgang.“ Heinen schaut unsicher zur Decke und reibt sich die Hände. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Ronny eine bessere Bestattung verdient. Die Urne habe auf einer ausrangierten Schulbank am Friedhofseingang gestanden, Heinen habe sie erst nicht zuordnen können. „Ist das schon der Ronny?“, habe er die Umstehenden gefragt. Die ganze Beerdigung dauerte nur wenige Minuten, ein Friedhofsangestellter habe die Urne ins Grab versenkt und Erde darauf geschüttet. „Dann noch schnell ein ’Ruhe in Frieden' und fertig“, erinnert sich Marcel Heinen schockiert.
Er wollte seinen Kumpel nicht so gehen lassen. Gemeinsam mit Freunden stand er am Grab, sie sprachen über Ronny. Dass er immer hilfsbereit war, dass er eigentlich aussah wie ein 19-Jähriger. Dass er ihnen fehlt. Seitdem kommen die Obdachlosen von der Wärmestube immer, wenn ein Kumpel stirbt. Obdachlos ja, gottlos vielleicht, anonym – nicht für diesen Moment der Ewigkeit.
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