: Bei Mosses unterm Biedermeiersofa
Unter goldgerahmten Gemälden zieht eine Modelleisenbahn ihre Kreise: Die Ausstellung „Stil(l)halten. Familienbilder im jüdischen Bürgertum“ im Jüdischen Museum lässt ihr Thema hinter viel Plüsch und Porzellan verschwinden
Er hatte keine Ahnung, dass es eine Flucht war. Seine Eltern erzählten ihm, es gehe spontan in die Ferien nach England. Peter Plesch war fünfzehn Jahre alt, als seine Familie im Januar 1933 Deutschland verließ. Die Pleschs sind eine von den sechs Familien, die in der Sonderausstellung des Jüdischen Museums „Stil(l)halten. Familienbilder im jüdischen Bürgertum“ porträtiert werden.
Ausgangspunkt sind sechs Gemälde, auf denen sich Berliner jüdische Familien aus der Zeit des Biedermeier bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts abbilden ließen. Einen Theatersaal aus rotem Plüsch haben sich die Aussteller für die Familie Mosse ausgedacht. Die Kulisse spielt auf die prächtig-theatrale Form an, in der Rudolf Mosse, Inhaber eines Verlags-Imperiums und einer der drei größten Steuerzahler Berlins, seine Familie abbilden ließ. Anton von Werner hat die Mosses in Renaissancekostümen an einer fröhlichen Tafelrunde porträtiert. Dass der liberaldemokratische Herausgeber Mosse ausgerechnet einen so erzreaktionären Maler wie von Werner beauftragte, der als Gegner moderner Kunst auftrat und mit nationalistischen Sujets Erfolg hatte, ist kein Widerspruch. Die Verbindung von liberalem Denken und konservativem Kunstgeschmack war typisch für das deutsche Bürgertum.
Auch der Eisenbahnkönig Henry Strousberg ließ seine Familie konservativ repräsentieren. Sie tritt vor der Kulisse eines italienischen Prachtgartens an, einer der Söhne nimmt in Reitstiefeln die Pose eines preußischen Aristokraten ein. Auf diese Weise konnte das jüdische Großbürgertum im 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der den Juden die staatsbürgerliche Gleichberechtigung noch verwehrt wurde, seine eigene gesellschaftliche Stellung selbstbewusst demonstrieren. Als Vorbild diente die Inszenierung der Rothschilds, die als „jüdischer Adel“ den Aufstieg aus dem Ghetto in die Mitte der Gesellschaft verkörperten.
Von der Ausstattungswut der Bildnisse haben sich die Ausstellungsmacher sichtlich anstecken lassen. In dem mit Goldrahmen-Gemälden zugehängten Strousberg-Raum fährt sogar eine Modelleisenbahn im Kreis herum. Der Salon, in dem sich die Kaufmannsfamilie Manheimer malen ließ, ist vom Biedermeiersofa bis zum Flügel originalgetreu rekonstruiert. Aber statt sinnliche Nähe zum Selbstverständnis der Familien zu erzeugen, verstellt diese Möbelschau den Blick auf die Ambivalenzen der Thematik. Etwa die Problematik der jüdischen Emanzipation, die einerseits einen phänomenalen Aufstieg eines Teils der deutschen Juden ermöglichte, andererseits aber nicht die erhoffte gesellschaftliche Akzeptanz brachte. Das jüdische Bürgertum blieb trotzdem weitgehend isoliert in der deutschen Gesellschaft, engere Beziehungen mit nichtjüdischen Familien waren eher die Ausnahme.
Deutlich wird diese Ambivalenz am Beispiel der Familie Plesch. Zur Ausstellungseröffnung war der 1918 in Berlin geborene Sohn der Arztfamilie, Peter H. Plesch, angereist und schilderte seine persönlichen Erinnerungen aus den letzten Jahren der Weimarer Republik. Im Haus des Arztes János Plesch verkehrten Künstler und Intellektuelle wie Wilhelm Furtwängler, Max Reinhardt und Albert Einstein. Es ist bemerkenswert, dass die Familie trotz dieser privilegierten Stellung bereits im Januar 1933 das Land verließ. Die drohende Gefahr war dem gut informierten Ehepaar Plesch – das bis zur letzten Sekunde die Emigration geheim hielt, bewusst. Schließlich konnten sich die Juden in Deutschland selbst in den Jahren der Weimarer Republik nie sicher fühlen.
Für den letzten Saal der Ausstellung hat der Fotograf Udo Hesse heutige jüdische Familien aus Berlin porträtiert. Hier reicht die Bandbreite von religiös-orthodox über bildungsbürgerlich bis hin zur lockeren Runde, in der die Teenager mit Turnschuhen und lässiger Pose in der Bildmitte hocken. Wie diese Familien über ihre gesellschaftliche Position denken, ob Formen von Isolation und Anfeindung spürbar sind, erfährt der Betrachter allerdings nicht. Stattdessen wird die Geschichte der jüdischen Familien unter dem ganzen Plüsch so antiquarisiert, dass das jüdische Erbe wirkt wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, mit der uns heute nichts mehr verbindet. CHRISTIAN BERNDT
Jüdisches Museum, Lindenstr. 9-14, Mo. 10–22 Uhr, Di.–So. 10–20 Uhr, bis 30. Januar 2005