Behandlung Demenzkranker: Ruhig gestellt mit Neuroleptika
Immer mehr Demenzkranke müssen Neuroleptika schlucken,obwohl sie gravierende Nebenwirkungen haben können: erhöhte Schlaganfallgefahr, Diabetes und Kreislaufprobleme.
BERLIN taz | Sie verkürzen das Leben und werden trotzdem immer häufiger verschrieben: Nervendämpfungsmittel, sogenannte Neuroleptika. Erhöhte Schlaganfallgefahr, Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme sind nur einige der Nebenwirkungen. Normalerweise behandeln Ärzte mit den Neuroleptika Psychosen. Doch auch immer mehr Demenzpatienten müssen sie schlucken. Und Medikamente wie Haldol oder Lithium sind bittere Pillen, vor allem für ältere Menschen.
"Das Risiko, dass sämtliche Typen von Neuroleptika bei Demenzpatienten zu erhöhter Sterblichkeit führen, ist schon lange bekannt", sagt der Herausgeber des Arzneimittelreports und Professor für Arzneimittelforschung, Gerd Glaeske. Der diesjährige Arzneimittelreport der Gmünder Ersatzkasse (GEK) hat auch die für Demenzpatienten verschriebenen Neuroleptika untersucht. Das Ergebnis: Jeder dritte GEK-Versicherte und Demenzkranke bekam mindestens ein Neuroleptikum.
Immer wieder steht dazu der Vorwurf im Raum, die Medikamente würde in manchen Pflegeheimen auch dazu benutzt, die Patienten wegen Personalmangels ruhig zu stellen.
"Das würde ich so unterschreiben", sagt Gerontopsychiater Bernd Meißnest. "Das ist ein gängiges Mittel, um Symptome bei Patienten zu reduzieren, die schreien oder aggressiv sind. Fragt man da die Mitarbeiter, heißt es, sie seien zu schlecht besetzt."
Bernd Meißnest arbeitet auf einer speziellen Demenz-Station in der LWL-Klinik in Gütersloh. Er plädiert für bessere Therapien und mehr Personal. "In Einzelfällen kann es bei dementen Menschen richtig sein, kurzfristig ein Neuroleptikum zu geben. Leider bekommen wir aber auch immer wieder Fälle, in denen sogar Fachkollegen Dosierungen geben, bei denen ich nur noch eines denken kann: Um Himmels willen!" Doch nicht nur die Demenzpatienten können sich der Pillen nicht erwehren.
Ursprünglich sollten die Medikamente Menschen mit Psychosen wie etwa Schizophrenie helfen, ihr Leben zu meistern. Der Gebrauch bei Demenzpatienten gehört zum "Off-Label-Use", also dem Einsatz bei Krankheitsbildern, für die die Mittel nicht zugelassen sind. Aber auch was den ursprünglichen Gebrauch angeht, gibt es Kritiker der Verschreibung von Neuroleptika. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) hat dazu gerade ein Memorandum verabschiedet. Dies spricht sich dafür aus, Neuroleptika nur sehr kontrolliert und möglichst niedrig dosiert oder - je nach Fall - auch gar nicht anzuwenden. "Das Memorandum ist das Ergebnis der Idee, dass es mit der Neuroleptika-Anwendung so nicht weitergehen kann", sagt einer der Autoren des Papiers.
Der Psychiater will nicht mit Namen genannt werden, weil das Memorandum nicht nur die Erfindung einer Person sei. Er selbst führt nämlich schon lange die Kontra-Debatte zu Neuroleptika und glaubt an die lebensverkürzende Wirkung bei allen Patienten, nicht nur bei Demenzkranken. Verschiedene Studien kämen zu dem Ergebnis, dass Patienten unter dem Einfluss von Neuroleptika eine bis zu zwanzig Jahre verkürzte Lebenserwartung haben. Jedoch kann das nicht kausal auf die Medikamente zurückgeführt werden. Patienten mit Schizophrenien wird unter Ärzten ein allgemein schlechter Lebensstil attestiert, sie rauchen häufiger, ernähren sich schlechter, bewegen sich wenig.
Die starken Nebenwirkungen wie das erhöhte Risiko für Schlaganfall und Herzversagen, exzessive Gewichtszunahme oder Diabetes sind bekannt. Doch bei der Beurteilung im Vergleich zum Nutzen gehen die Meinungen auseinander. Viele Experten attestieren den Mitteln großartige Wirkungen in der Psychiatrie. "Die offene Psychiatrie wäre ohne Neuroleptika für Schizophreniepatienten gar nicht denkbar", erklärt Arzneimittelforscher Glaeske.
Die umstrittenen Tabletten werden seit den 50er-Jahren in der Psychiatrie verordnet. Erst seit einigen Jahren tobt ein offener Glaubenskampf um ihre Wirkung. Die Nervendämpfer beeinflussen die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen.
"Die Medikamente blockieren die Dopamin-Rezeptoren im Gehirn, damit der Patient nicht mehr so aufgeregt ist und zur Ruhe kommen kann", sagt Psychiater Stefan Weinmann, ebenfalls einer der Autoren des DGSP-Memorandums. Die Wirkung bei einer akuten Psychose sei positiv.
Da stimmt auch Weinmanns Kollege zu - doch der Psychiater geht davon aus, dass bei fast 40 Prozent der Patienten eine Behandlung ohne Neuroleptika oder mit nur sehr geringer Dosierung möglich sei. Wieso werden die Pillen dann überhaupt verordnet?
"Das Ganze ist eine Baustelle von industriellen Interessen. Manche der Pharmafirmen haben eine Rendite von bis zu 20 Prozent. Es ist ein Milliarden-Dollar-Markt geworden", so die Antwort des Psychiaters. Deshalb fordern er und die anderen Autoren des Neuroleptika-Memorandums auch "Transparenzregeln bei der Offenlegung von Interessenkonflikten zwischen Medizin und Pharmaindustrie".
Bezüglich der Neuroleptika-Verordnungen bei Demenzkranken heißt es in dem Memorandum: "Die verharmlosende Werbung einzelner Hersteller für die Anwendung dieser Substanzen steht im Kontrast zu deren erheblichen Risiken. Dies unterstützt eine leichtfertige Verschreibungspraxis."
Zu dieser Praxis arbeitet der Medizinische Dienst des Spitzenverbands der Krankenkassen (MDS) gerade an einer Stellungnahme. Diese solle die Mitarbeiter, die Pflegeheime überprüfen, darauf hinweisen, dass bei Alzheimer-Patienten keine Neuroleptika verschrieben werden sollen. Die Kontrolleure des Medizinischen Dienstes könnten in dieser Frage vor Ort jedoch nur beratend tätig werden, umschreibt es ein Mitarbeiter.
Allerdings geht es in der Stellungnahme ausschließlich um Alzheimer, andere Arten von Demenz bleiben außen vor. Zur Wirkung von Neuroleptika bei anderen Demenzpatienten gebe es noch keine gesicherten Forschungsergebnisse, heißt es beim MDS.
Die gebe es allerdings, sagt ein Neuroleptika-Gegner und Psychiater: "Es ist eine Katastrophe, was mit den Demenzkranken passiert. Das ist Euthanasie."
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