Begegnung während der Modewoche: Das Modell, das spricht
Sie war das Chanel-Gesicht schlechthin: In den 1980ern war sie sogar in einer Moskauer Datscha ein Star. Und heute? Eine Begegnung.
Ich habe neulich eine Mode-Ikone getroffen! Wirklich. Habe sie auch sofort erkannt. Und das kam so.
Als ich fünfzehn, sechzehn war, da war unsere Nachbarin auf der Datscha hundert Kilometer östlich von Moskau eine Dame, deren Mann beim Militär arbeitete. Als Witwe hatte sie darum Zugang zu den besonderen Geschäften auf den Militärgeländen. Von dort brachte sie immer Sachen mit, die uns das pure Staunen ins Gesicht trieben: Stiefel aus jugoslawischer Produktion mit Keilabsatz, französische Parfums, Kleider aus Chiffon, Seidentücher.
Manchmal konnten wir ihr was abkaufen, das war eine tolle Ergänzung zu den Sachen, die ich mir sonst meist selbst machte: die einfachen Ballerina-Schuhe etwa mit goldenen Schnallen, abgeschnitten von Schuhen aus der Garderobe meiner Großmutter, die meine Mutter gerade wegwarf. Oft fragten mich Leute in der Metro, wo ich die tollen Schuhe herhätte.
Oder der Hosenrock aus dem unteren Teil eines leichten Militärmantels, dessen Oberteil die Motten zerfressen hatten, von meinem Großvater, einem Luftwaffen- Oberst, für den Verschluss am Bund hatte ich vier superedle goldene Knöpfe genommen, reinster Louis XV.
Gazetten für die modesüchtige Tochter
Diesen Rock hatte ich noch beim Vorstellungsgespräch am Staatlichen Modeinstitut an. Und dann brachte die Nachbarin auch manchmal Zeitschriften mit, die meisten aus dem Westen, Vogue und Elle und Burda Moden, mit den beliebten Schnittbögen. Wir stürzten uns sofort darauf. Die Lieferantin ließ sich’s auch gut bezahlen und meine Eltern wurden ein Vermögen los für die Gazetten ihrer modesüchtigen Tochter.
Oft schnitt ich mir die besten Fotos aus den Zeitschriften aus und legte kleine Sammlungen an, meine liebste war, logisch, die von Chanel Paris. Da war in den 1980ern in fast allen Chanel-Shootings ein bestimmtes Gesicht zu sehen – das Chanelgesicht, das Parisgesicht, das Traumgesicht … Natürlich wussten wir sofort ihren Namen, er klang besser als der ganze Schwanensee oder die Tenor-Arien, die mein Vater daraus stundenlang zum Besten gab, auswendig.
Im diesem Herbst, wie jedes Jahr: Pariser Fashion Week für die Frauenkollektionen Frühling/Sommer 2020. Die ganze Stadt ist ein großes Festival, die spektakulärsten Shows an spektakulären Orten, im Grand Palais unter Glas und Eisen aus dem 19. Jahrhundert oder im Ritz, im Hotel Intercontinental. Wo die Show von Dries Van Noten stattfinden sollte, Opera de la Bastille, wurde bis zur letzten Minute so geheim gehalten, als wäre man bei Marquis de Sade persönlich zu Besuch (der einst in der Bastille einsaß).
Die Trendsetter schleichen durch die Tuilerien, und wer in der Metro von Show zu Show fährt, erkennt sofort die Modeleute an ihren eleganten, selbstbewussten Outfits. Hauptsache, alles im letzten Trend und so sichtbar wie möglich.
Die 1970er und 1980er Jahre kommen wieder
In diesem Herbst/Winter sieht man viele Formen der 1970er und 1980er Jahre wiederauftauchen – Rückkehr der Bourgeoisie, mit modernisiertem Charme, diskret oder laut, aber auf jeden Fall mit goldenen Ketten, Ohrclips, dem berühmten Chanel-Kettengürtel und Absätzen ohne Ende.
Parallel laufen auch noch zwei Messen, Tranoi und Première Classe, alles im ersten Arrondissement, rund um die Rue de Rivoli. Dort sind auch die kleineren oder größeren Showrooms zu finden, in denen man dann zum Beispiel die Sachen von Dries Van Noten oder Martin Margiela direkt anfassen kann.
Einen Showroom direkt gegenüber vom berühmten Musée des Arts Décoratives betrete ich neugierig. Ruhige Atmosphäre, nicht so hektisch wie draußen, großzügige Räumlichkeiten mit schweren Möbelobjekten, teils aus Marmor, zeitlos modern, ein aristokratischer Flair weht einen an, und plötzlich steht sie vor mir: Inès Marie Lætitia Églantine Isabelle de Seignard de la Fressange, das Parisgesicht meiner Jugend! Eine der großen Mode-Ikonen von Paris.
Da steht sie: schlank, groß, sehr natürlich mit einem perfekt sitzenden, dunkelblauen Hosenanzug (plus Cowboy-Gürtel) und schlichter schwarzer Seidenbluse, um halb elf morgens in bester Stimmung. Sie ist witzig, von großer Offenheit, und nach kurzem Kaffeeempfang fangen wir sofort an, über sie und ihre neue Kollektion zu sprechen.
Die Mutter modelte für ihre Analyse bei Jacques Lacan
Inès stammt aus einer adligen Familie, die Großmutter war Schriftstellerin, die Mutter hat gemodelt, um ihre Analyse bei Jacques Lacan bezahlen zu können. Inès ist in der Nähe von Paris aufgewachsen und hat Mitte der 1970er ihre Karriere begonnen, zunächst als Model für Thierry Mugler, für Elle etc. Bekannt wurde sie als „le mannequin qui parle“, das Model, das spricht, weil sie vom Laufsteg runter anfing, mit Journalisten über Mode zu diskutieren.
Dann entdeckte Karl Lagerfeld sie für Chanel, weil er in ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit Coco Chanel höchstpersönlich sah. Von 1983 bis 1989 hatte sie als erstes Model der Welt einen Exklusivvertrag für ein einziges Label, bevor sie sich dann mit Lagerfeld über die delikate Frage zerstritt, ob sie für eine Büste der französischen Nationalheiligen Marianne Modell stehen darf.
Lagerfeld meinte: „Ich mag kein Monument anziehen, das ist mir zu vulgär!“ Inès kündigte und ging dann als Creative Director zu Roger Vivier, kreierte Parfums und gründete schließlich ein eigenes Label, mit von ihr entworfenen und gestalteten Kollektionen.
Inès de la Fressange kennt die Mode als ganze, von innen, jede kleinste Bewegung und Veränderung in ihr und hat alles schon einmal ausprobiert. In den letzten Jahren hat sie sich als Autorin einen Namen gemacht. Nach einer Autobiografie 2002 schrieb sie seit 2010 (zusammen mit der Journalistin Sophie Gachet und anderen) eine Serie von Bestsellern, die in alle Sprachen der Welt übersetzt sind, auch ins Deutsche: „Pariser Chic“ (2010), „Pariser Chic für ihn“ (2017), „Pariser Chic. Wohnen mit Esprit“ (2018).
Was ist Pariser Chic?
Aber was ist das – Pariser Chic? Jetzt, wo alles global wird und sich die Kulturen verwischen? In den 1980ern sieht man Inès diesen Chic als unerreichbaren Traum vorführen, in Schlössern, umgeben von Seide, vor barocken Statuen, mit einem Falken auf der Hand, schmachtend auf Louis-XV-Sofas – eben das, was auch auf der Moskauer Datscha ankam.
Aber sobald Inès selbst spricht und gestaltet, in ihren Kollektionen und Büchern, ihren vielen Zeichnungen, da wird Pariser Chic eine sehr erreichbare Wirklichkeit: dieses leicht Klassische, mit lässiger Haltung und Ironie, die nicht alles nach außen zeigt, ein kleines Geheimnis bewahrt, nicht ganz fertig und nie perfekt ist. Wenn Inès den Chic der Pariserin in sechs Eigenschaften zusammenfasst, dann ist gleich die zweite: „Sie meidet Komplettausstattung“.
Denn das Zauberwort heißt: Kombiniere! Mach was aus den einfachsten Sachen! Das bestimmt ihre Definition von „Chic“. Über die Pariserin heißt es bei Inès: „Ihre Garderobe ist eine gekonnte Mischung aus ‚günstigen‘ Stücken, Reiseerrungenschaften und einigen Luxusartikeln.“ Kurzum: ein Stück Moskauer Stil der 1980er.
Und Männer? Die kommen nicht vom Olymp, sondern Inès fotografiert und porträtiert in ihrem Buch über den „Pariser Chic für ihn“ wirkliche Outfits wirklicher Männer in ihrer Umgebung. Auch Ines’ neue Kollektion für Sommer 2020 ist für eine Frau geschaffen, die, so sagt sie, ein ganz normales und aktives Leben führt.
Hauptsache man sieht nicht angezogen aus
Hauptsache, man sieht nicht „angezogen“ aus. „Meine Eltern haben mir Respekt nicht für teure Sachen und Luxus beigebracht, sondern für Talent und Extravaganz, auch die Gabe, sich von den anderen zu unterscheiden.“
Und so nimmt sie am Abend vor der Eröffnung des Showrooms schwarze und weiße Farbe und bemalt einen der Trenchcoats ihrer neuen Kollektion über und über mit Sprüchen – „I am not a bourgeoise. I’ll never be a fashion victim. I make love and I am not married. Don’t care for brands, watch for beauty. Climate change, didn’t you know. How dare you? Basics don’t exist, but style never dies. J’adore mon vélo.“
Der Mantel springt gleich in die Augen, ich darf ihn anziehen und mich mit ihr fotografieren lassen. Als ich mich verabschiede, stürmt gerade die Assistentin rein und verkündet der strahlenden Inès: „Die Einkäufer von Galeries Lafayette aus Berlin sind da!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen