: Befreite DDR-Sprache und Gefühlswörter
■ Über „Wendehälse“ und die befreite Sprache der revolutionären Bewegung
Christa Wolf
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf ein Mal frei von den Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen. „Demokratie - jetzt oder nie!“, und wir meinen Volksherrschaft. Wir erinnern uns der stecken gebliebenen oder blutig niedergeschlagenen Ansätze in unserer Geschichte und wollen die Chance, die in dieser Krise steckt, da sie alle unsere produktiven Kräfte weckt, nicht wieder verschlafen. Mit dem Wort „Wende“ habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot. Der Kapitän ruft: „Klar zur Wende?“, weil der Wind sich gedreht hat oder ihm ins Gesicht bläst. Und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? Stimmt es noch in dieser täglichen vorwärtstreibenden Lage?
Ich würde von „revolutionärer Erneuerung“ sprechen. Revolutionen gehen von unten aus, unten und oben wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem, und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang. Soviel wie in diesen Wochen, ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer, aber auch mit so viel Hoffnung. Wir wollen jeden Tag nutzen. Wir schlafen nicht oder wenig. Wir befreunden uns mit Menschen, die wir vorher nicht kannten, und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen, die wir zu kennen glaubten. Das nennt sich nun „Dialog“. Wir haben ihn gefordert. Nun können wir das Wort fast nicht mehr hören. Und haben doch noch nicht wirklich gelernt, was es ausdrücken will. Mißtrauisch starren wir auf manche, plötzlich ausgestreckte Hand, in manches vorher so starre Gesicht. Mißtrauen ist gut, Kontrolle noch besser. Wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben und geben sie postwendend zurück. Wir fürchten, benutzt zu werden, verwendet. Und wir fürchten ein ehrlich gemeintes Angebot auszuschlagen. In diesem Zwiespalt befindet sich nun unser ganzes Land. Wir wissen, wir müssen die Kunst üben, den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen. Diese Wochen, diese Möglichkeiten werden uns nur einmal gegeben - durch uns selbst.
Verblüfft beobachten wir die Wendigen, im Volksmund „Wendehälse“ genannt, die laut Lexikon sich rasch und leicht einer gegebenen neuen Situation anpassen, sich in ihr geschickt bewegen, sie zu nutzen verstehen. Sie am meisten, glaube ich, blockieren die Glaubwürdigkeit der neuen Politik. Soweit sind wir wohl noch nicht, daß wir auch sie mit Humor nehmen können, was uns doch in anderen Fällen schon gelingt. „Trittbrettfahrer zurücktreten!“ lese ich auf Transparenten und an die Polzei gerichtet von Demonstranten der Ruf: „Zieht euch um, schließt euch an!“ Ich muß sagen, ein großzügiges Angebot. Ökonomisch denken wir auch: „Rechtssicherheit spart Staatssicherheit“. Und heute habe ich auf einem Transparent eine schier unglaubliche Losung gesehen: „Keine Privilegien mehr für uns Berliner.“ Ja, die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist Traum. Also träumen wir, mit hellwacher Vernunft: „Stell‘ dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg.“ Wir sehen aber die Bilder, der immer noch Weggehenden und fragen uns: „Was tun?“, und hören als Echo die Antwort: „Was tun?“. Das fängt jetzt an, wenn aus den Forderungen Rechte also Pflichten werden: Untersuchungskommission, Verfassungsgericht, Verwaltungsreform.
Viel zu tun und alles neben der Arbeit und dazu noch Zeitungen lesen. Zu Huldigungsvorbeizügen und verordneten Manifestationen werden wir keine Zeit mehr haben. Dies ist eine Demo, genehmigt, gewaltlos. Wenn sie so bleibt bis zum Schluß, wissen wir wieder mehr über das, was wir können und darauf bestehen wir dann. „Ein Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei.“ (Alles nicht von mir, alles nicht von mir. Das ist literarisches Volksvermögen.) Unglaubliche Wandlung, das Staatsvolk der DDR geht auf die Straße, um sich als Volk zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen: der tausendfache Ruf: „Wir sind das Volk!“ Eine schlichte Feststellung und die wollen wir nicht vergessen.
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