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Baumschützer in Istanbul„Wischt sie alle weg!“

Ein Großaufgebot der Polizei geht gewaltsam gegen friedliche Parkbesetzer vor. Dabei werden Hunderte verletzt, fünf von ihnen schwer.

Die Polizei in Istanbul setzt Tränengas gegen Baumschützer ein Bild: reuters

ISTANBUL taz | Mit einem der brutalsten Polizeieinsätze in Istanbul seit langem hat die politische Führung des Landes am Freitag in den frühen Morgenstunden versucht, die anhaltenden Proteste gegen die Abholzung hunderter Bäume in einem zentralen Park der Stadt zu beenden. Ein Großaufgebot der Polizei überfiel um fünf Uhr morgens friedliche Park-Besetzer, die sich zuvor mit Lesungen und Konzerten wach gehalten hatten.

Die Volksfestathmosphäre vom Abend, als fast 10.000 Demonstranten friedlich für den Erhalt der Bäume zusammen gekommen waren, wurde am Morgen mit Wasserwerfern, Tränengasgranaten und Schlagstöcken abrupt beendet. Die Polizei hatte den gesamten Park umzingelt und drang von allen Seiten auf die teilweise in Zelten schlafenden Park-Besetzer ein. Es kam zu wilden Verfolgungsszenen, als die Polizei flüchtende Demonstranten mit Wasserwerfern verfolgte und teilweise aus nächster Nähe umschoss.

Die meisten Verletzungen entstanden allerdings durch Tränengasgranaten, die von den gefürchteten Sondereinheiten der Polizei Demonstranten gezielt ins Gesicht geschossen wurden. Fünf Park-Besetzer liegen derzeit schwer verletzt auf den Intensivstationen verschiedener Krankenhäuser. Der Abtransport der Verletzten wurde dadurch erschwert, dass die Polizei auch Krankenwagen nicht passieren ließ.

Auf die Nachricht des Polizeieinsatzes hin eilten hunderte weitere Unterstützer der Park-Besetzer zum Ort des Geschehens, wurden aber schon weit im Vorfeld des Parks von Wasserwerfern und Tränengas empfangen. Die Demonstranten sammelten sich daraufhin vor dem nahe gelegenen Luxus-Hotel Divan gegenüber dem Park, aber die Polizei setzte auch hier massiv Tränengas ein.

Demonstranten flüchten ins Hotel

Die Schriftstellerin Gönül Kivilcim, die die Besetzer unterstützt, war mit einigen Kolleginnen vor dem Divan-Hotel. Am Telefon sagte sie: „Wir waren zwischen dem Hotel und einer Baustelle zusammengepfercht und konnten nicht mehr weg. Die Polizei schoß aus wenigen Metern Entfernung Tränengasgranten auf uns. Ahmet Sik, ein bekannter oppositioneller Journalist, brach am Kopf getroffen blutend zusammen. Auch meine Freundin wurde ohnmächtig. Das Divan Hotel öffnete dann die Türen und ältere Leute und Verletzte konnten sich in die Lobby flüchten. Das Hotel stellte den Verletzten sogar Zimmer zur Verfügung.“

Die Verantwortlichen des Divan Hotels waren nicht die einzigen, die sich mit den Demonstranten solidarisierten. Noch während des Polizeieinsatzes in den Morgenstunden waren Abgeordnete der Opposition in den Park geeilt und hatten versucht, sich zwischen die Polizei und die Besetzer zu stellen. Sie wurden ebenfalls geschlagen und mit Tränengas besprüht.

Kritik auch in Erdogans Lager

Am Mittag wollten Gewerkschafter und Oppositionspolitiker auf dem Taksim-Platz eine Pressekonferenz abhalten. Mehrere hundert Demonstranten war es gelungen, durch die Polizeisperren zu kommen. Sie hatten sich im Kreis auf den Platz gesetzt, doch noch bevor jemand eine Erklärung abgeben konnte, befahl ein leitender Polizeioffzier: „Wischt sie alle weg“.

Die stupide, brutale Reaktion der Polizei und die Kompromisslosigkeit der Regierung empört allerdings immer mehr türkische Bürger. Nicht mehr nur Vertreter der Opposition, sondern zunehmend auch Stimmen aus dem eigenen Lager kritisieren Ministerpräsident Tayyep Erdogan für seine Politik. So titelte heute die regierungsnahe Zeitung Todays Zaman: „Istanbul wird durch die geplanten Mega-Projekte unbewohnbar“. Eine Gutachterkommission des Gerichts, das von der Architektenkammer angerufen worden war, kam bereits am Donnerstag zu dem Schluß, dass das geplante Einkaufszentrum anstelle des Parks baurechtlich nicht akzeptabel sei. Über 80 Naturschutz- und Menschenrechtsorganisationen, darunter Greenpeace und Amnesty International, haben gegen die Polizeiwillkür protestiert.

Der Regierungschef will hart bleiben

Cihan Aktas, eine bekannte Schriftstellerin aus dem muslimischen Lager, sagte: „Ich bin skeptisch, wenn öffentliche Flächen wie Parks für kommerzielle Zwecke umgewidmet werden. Bäume sind für Muslime lebende Wesen. Sie können nicht einfach umgehauen und weggeworfen werden.“ Auch der vor drei Monaten abgelöste ehemalige Kulturminister von Erdogan, Ertugul Günay, wandte sich öffentlich gegen die Abholzaktion.

Nach vier Tagen massiver Proteste scheint ausgerechnet der Versuch, einen Park für den Bau eines Einkaufszentrums zu nutzen, zu einem Kulminationspunkt des Widerstandes gegen die zunehmend autoritärer agierende Regierung Erdogan zu werden. Schon vor zwei Tagen hatte Erdogan angesichts der Proteste in gewohnt autoritärer Manier gesagt, es werde keine Änderungen geben: „Wir haben uns entschieden“. Doch immer mehr Leute sagen: „Nein, wir werden das nicht zulassen.“

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16 Kommentare

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  • E
    Emre

    @end.the.occupation

     

    So einen Schwachsinn habe ich noch nie gelesen. Alle Andersdenkende in der Türkei werden durch die AKP-Regierung verfolgt, eingesperrt oder gar beseitig.

    Es hat nichts mit Islamphophie oder Hass zu tun. Jeder wie er möchte aber wenn Leute wie Du mir vorschreiben an was ich Glauben, Denken und Machen soll kotz ich. Atatürk hatte die Reformen aus diesem Grund in die Wege geleitet. Staat und Religion müssen getrennt bleiben. Basta! Die Bäume stehen für die Seele der Türken, wenn diese gefällt werden wird auch die Freiheit gefällt. Dieses Vorhaben war der letzte Tropfen und jetzt reicht es eben den Leuten. Keine Bevormundung!

  • L
    LilaMila

    Verstehe nicht den Kommentar über "Hass auf den Islam" - wo ist das bitte hier zu finden?

    Es geht offensichtlich um eine Diktatur des Herrn Erdogan - er duldet keine Widerrede. So sehen Diktatoren aus. Erinnert mich an China 1989 - Tiananmen Platz (Platz des Himmlischen Friedens)...

  • E
    @end.the.occupation

    ???

    Islamfeide = Gonzo/istanbuler Polizei?

    falls Gonzo gemeint sein sollte:

    wo ist die Phobie, wo der Hass?

    eine Aversion gegen religiösen Dünnpfiff als Begründung von profanen, allgemein bekanntem... ja.

    Moslems fällen nie Bäume?

    Blödsinn!

    Bei der Berichterstattung über S21 wurden auch keine Freikirche-spinner zitiert, welche das Graben eines Lochs als Sünde gegen Gott interpretieren.

    Warum muss also dieser religiöse Blödsinn, wenn es um einen Park in einer islamisch geprägten Region geht, abgedruckt werden?

     

    Dummschwätzer in Zukunft bitte nicht zitieren. das erweckt schnell den Eindruck, dass es sich bei allen Betroffenen um eine Horde verblendeter Deppen handelt.

  • OP
    Olivia P. Moore

    Deutschland sollte sich mal mit seiner Kritik mehr als zurückhalten.

    Erinnerung an den 30.09.2010 in Stuttgart :

    Über 50.000 BürgerInnen wollten ihren Park vor dem unsinnigen Großprojekt S21 retten und wurden mit Wasserwerfern regelrecht abgeschossen. Die Polizeigewalt war auch da brutal. Es gab Hunderte von Verletzten, ein Mann ist nahezu erblindet. Bis heute sind Leute traumatisiert, die Bundesregierung tut nichts. Im Gegenteil. Die BürgerInnen wurden und werden bis zum heutigen Tage kriminalisiert .

    Der damalige Ministerpräsident von BW, Stefan Mappus (CDU) , muss sich bis heute nicht verantworten. Frau Merkel hatte 15 Tage zuvor,am 15.09.2010, in ihrer Regierungserklärung klar gesagt, das S21 kommen solle. Die "Marschrichtung" war also vorgegeben.

    S21 ist mehr als die Tieferlegung eines bestehenden Bahnhofes. Es ist ein großes Immobiliengeschäft.

    Die Vorbereitung zum Bau von S21 wird trotz massiver Proteste,die bis heute anhalten, unsinnigerweise fortgesetzt, Milliarden € werden dazugeschossen, die den Steuerzahler belasten. Frau Merkel wollte S21 nicht mehr zum Thema im Wahljahr haben. Es wird gelogen und Gesetze werden verbogen. In Deutschland.

    Man könnte sarkastisch anmerken, Erdogan hat von Europa,von Deutschland gelernt. Was will denn Frau Merkel dem Herrn Erdogan sagen ? Das man nicht gegen friedlich demonstrierende BürgerInnen mit brutaler Staatsgewalt reagiert ? Das man keine Wasserwerfer gegen BürgerInnen einsetzt ? Das man nicht einfach so weitermachen kann, trotz massiver Proteste ? Hahaha !

    Bevor sich Deutschland anmasst, den moralischen Finger zu heben, sollte es erstmal im eigenen Lande dafür sorgen, das die BürgerInnen dem Rechtsstaat vertrauen können. In Stuttgart wurde es massiv erschüttert.

     

    Sicher ist das nicht annähernd mit der politischen Situation Türkei zu vergleichen - damit hier kein Irrtum entsteht. Denn wir leben ja in einer Demokratie. In einer Interessendemokratie.

    Solidarität mit den türkischen BürgerInnen, die sich gegen dieses totalitäre Staatssystem wehren.

    https://www.youtube.com/watch?v=vDBSk_KKisU

  • H
    Hefezopf

    Ich bin da guter Dinge....den Experten warnen vor Gipskeuper-Schichten, die in den Böden der Stuttgarter Region vorkommen und die Erdarbeiten möglicherweise erschweren könnten. Denn aus Gipskeuper (Anhydrit) kann Mineralgips entstehen, wenn er mit Wasser in Verbindung kommt. Das Problem: Das Volumen von Gips ist um etwa 60 Prozent größer als das von Gipskeuper - der Boden quillt also auf wie ein Hefeteig. Dadurch können oberirdische Schäden entstehen, wenn sich der Boden langsam, aber unaufhaltsam hebt.

     

    http://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/nachrichten/stuttgart-21-durch-den-gipsboden-in-die-hoelle/3352622.html

  • G
    Gast

    Ich kenne einige Polizisten, die netten von denen sind bestenfalls unglaublich naiv, der Rest variiert zwischen dumm, steroid-konsument, rechtslastig und skrupellos... Und das sage ich, obwohl ich einige privar als durchaus angenehme Menschen kenne. Aber auch die haben mehrfach durchblicken lassen, wie sie "im Dienst" ticken. Und diversen anderen gehe ich lieber direkt aus dem Weg, wenn ich die im Fitness-Studio über ihre Steroid-Kuren quatschen höre.

  • S
    Sky

    Die Nationalisten schliessen sich den Protesten an - Proteste jetzt in acht groesseren Staedten - Rawya Rageh (al jazeera) on twitter

  • E
    end.the.occupation

    Erschütternd dieser Hass auf den Islam. Inshallah geht die Polizei mit aller größter Härte gegen die Islamfeinde vor. Islamophobie ist keine Meinung sondern ein Verbrechen!

  • S
    Sky

    arab spring

  • G
    Gonzo

    "Bäume sind für Muslime lebende Wesen." Boah, welch mutiger Glaube. Und 1 plus 1 ergibt für Muslime 2. Herzzerreissend. Dass jede noch so öde Banalität mit diesem zuckersüßen Pseudo-Glaubensschmier überzogen wird, geht mir echt auf den Keks.

  • M
    MaJu
  • IS
    Istanbuler Student

    hier sind einige Bilder, die den heutigen tag sehr gut zusammen fassen. Koordinierte Polizeigewalt in einem ausmaß das ich in Deutschland so noch nicht gesehen habe.

    http://occupygezipics.tumblr.com/

  • D
    #direngeziparki

    Ich fürchte, die Gewaltausschreitungen übersteigern Stuttgart 21 deutlich! Hier der Link zu einem Video-Stream, momentan leider nicht live: http://geziparkitv.blogspot.it/

    Auch die Dramatik ist eine ganz andere - in Istanbul wird um den letzten großen Park gekämpft, in der Stadt ist in den letzten Jahr(zehnt)en fast alles grün verschwunden.

     

    Ich hoffe sehr, die taz wird weiter darüber berichten und würde mir noch mehr Präsenz für das Thema wünschen, einen höheren Platz auf der Startseite beispielsweise.

  • VD
    Vor der eigenen Tür kehren

    Stuttgart 21 auf türkisch.

  • D
    dieter

    Jetzt hat die Türkei auch ein "Istanbul21".

    Langsam wird es für Merkel schwierig, offensichtlich passt die Türkei sehr gut in Merkels EU!

     

    @rinokathrin

    Stimmt, der Text ist geschrieben von Gottschlich, nicht von Bax. Gut aufgepasst...

    bist du ne Ex vom Bax?

    Oder warum denkst du immer na ihn, egal um was es grade geht?

  • R
    renokathrin

    Da sagt der Bax natürlich nix....