: „Bau dich selbst als Marke auf“
Das Bewusstsein für mentale Gesundheit ist stark wie nie. Dabei werden Probleme häufig individualisiert und deren strukturelle Gründe ignoriert, kritisiert Psychologe Luca-Leander Wolz

Interview Jonas Kähler
Herr Wolz, als „psychologeluca“ geben Sie online Alltagstipps für die psychische Gesundheit. Diese wollen Sie nicht nur als persönliches Thema, sondern strukturell als System verstehen. Was bedeutet das?
Luca-Leander Wolz: Grundsätzlich möchte ich damit erst mal einen Perspektivwechsel anregen, der in meinen Augen in der Mainstream-Psychologie und Psychotherapie ein bisschen zu kurz kommt. Wenn wir über psychische Erkrankungen reden, denken wir zwar immer schon an das biopsychosoziale Modell, welches ein Erklärungsmodell für psychische Erkrankungen darstellt. Die Idee dahinter ist, dass die Genese dieser Erkrankungen durch biologische, psychische und soziale Faktoren mitbedingt wird.
taz: Das klingt nach einem recht breiten Verständnis.
Wolz: Aus meiner Perspektive kommen dabei jedoch häufig soziale und strukturelle Faktoren zu kurz. Die meisten Erkrankungen entstehen eben nicht im luftleeren Raum, sondern sind auf vielfältige Art und Weise strukturell mitbedingt.
taz: Was genau meinen Sie damit?
Wolz: Wir alle werden in bestimmten Gesellschaftsstrukturen sozialisiert und nehmen dementsprechend auch bestimmte Perspektiven ein, internalisieren Grundannahmen, die auf gesellschaftlich vorherrschenden Paradigmen basieren. Ich thematisiere dabei vor allem neoliberale Narrative und deren Wirkung auf unsere psychische Gesundheit. Also Leistungsdruck, Selbstunternehmer*innentum und das Diktum der Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich des eigenen „Funktionierens“ trotz multipler Gesellschaftskrisen.
taz: Aber ist ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür nicht vorhanden?
Wolz: Diese Dinge werden nicht ausgeblendet, aber in meinen Augen doch häufig nicht ausreichend berücksichtigt. Die Verantwortung für die eigene psychische Gesundheit wird schnell auf das Individuum gelegt. Dann wird gesagt: „Okay, dir geht es nicht gut, dann musst du jetzt an dir arbeiten, dass es dir wieder besser geht.“ Entsprechende historisch gewachsene Narrative und strukturelle Aspekte werden somit außer Acht gelassen.
taz: Das Denken, psychische Probleme seien individuelles Versagen, ist also noch nicht überwunden? In den vergangenen Jahren hat sich hier doch viel getan.
Wolz: Es hat auf jeden Fall eine teilweise Entindividualisierung und Entstigmatisierung stattgefunden. Psychotherapie ist in vielen Milieus mittlerweile normalisiert, viele sprechen offen darüber, der Diskurs hat sich demnach in Teilen verändert. Je nach Milieu und auch in Bezug auf die Generationen gibt es dabei natürlich aber auch Unterschiede. Es gibt auch Milieus, in denen psychische Erkrankungen weiterhin stark stigmatisiert werden.
taz: Was beeinflusst, wie wir über psychische Gesundheit denken?
Wolz: Ich beziehe mich gerne auf den Neoliberalismus, welcher zwar vornehmlich eine Wirtschaftsform darstellt, aber eben auch bestimmte Narrative befördert. Letztlich ist die Idee des Neoliberalismus ja eine Entstaatlichung, freie Märkte, möglichst wenig sozialstaatliche Leistungen. Das führt natürlich dazu, dass wir alle mehr auf uns selbst bedacht sind dass wir den Wettbewerb, auch untereinander, normalisieren. Der Neoliberalismus prägt Narrative von Flexibilität und Effizienz. Bau dich selbst als Marke auf. Sei Unternehmer*in deiner selbst. So das Framing. Das hat natürlich einen riesigen Einfluss darauf, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen.
taz: Und zwar welchen?
Wolz: Es fördert ein Narrativ der Eigenverantwortung. Wenn du nicht funktionierst beziehungsweise psychisch krank wirst, dann liegt das an dir selbst. Vielleicht hast du nicht gut genug an dir selbst gearbeitet. Du musst dich halt wieder zusammenreißen. Das führt zu einer ganz starken Individualisierung von psychischen Problemen.
taz: Dient Psychotherapie im Kapitalismus nur dazu, Menschen wieder fit für den ausbeuterischen Arbeitsmarkt zu machen?
Wolz: Ich würde behaupten, da ist zum Teil etwas dran, zum Teil nicht. Natürlich bewegt sich auch die Psychotherapie innerhalb eines Systems. Und wenn dieses nicht ausreichend reflektiert wird, kann es auch dazu beitragen, dass strukturelle Ungleichheitsmechanismen weiterhin mitgetragen werden. Insofern kann man diese Kritik natürlich durchaus äußern.
taz: Aber?
Wolz: Nichtsdestotrotz muss man ganz klar sagen, die reine Definition der Psychotherapie ist ja die eines Heilungsverfahrens für Leid beziehungsweise für psychische Krankheit. Das sollte man erst einmal losgelöst von gesellschaftlichen Verhältnissen betrachten. Es geht bei Psychotherapie nicht um gesellschaftliche Veränderungen, sondern darum, dem Individuum bei individuellen Problemen zu helfen. Als Therapeut*in sollte man dennoch reflektieren, welche Machtverhältnisse auch innerhalb der Therapie wirken und wie man den Patient*innen am besten helfen kann, ihre Handlungsspielräume trotz struktureller Ungleichheiten in der Gesellschaft zu erweitern.
taz: Sie klären auf sozialen Medien aus kritischer Perspektive über psychologische Themen auf. Mein Feed ist geflutet von Tipps für die perfekte Morgenroutine oder Atemübungen gegen den Arbeitsstress. Alles geht um Self-Care, Self-Love, Selbstoptimierung. Was bewirkt das bei uns?
Wolz: Neben der Selbstoptimierung ist das andere problematische Momentum, dass soziale Medien die sozialen Vergleichsprozesse, die wir Menschen durchgehend erleben, noch mal verstärken. Es findet ein permanenter sozialer Aufwärtsvergleich statt. Wir sehen die ganze Zeit Self-Love- und Selbstoptimierungstechniken, sehen, wie gut diese bei den anderen funktionieren, wie wohl sie sich fühlen, wie zufrieden und glücklich sie sind. Natürlich führt das dazu, dass wir die ganze Zeit das Gefühl haben, uns ginge es irgendwie nicht so gut. Zudem reproduziert es den Glauben an die eigene Selbstverantwortung.
taz: Sie selbst sind Mitte zwanzig, haben einen Master in Psychologie, machen Ihre therapeutische Ausbildung und schreiben an Ihrer Doktorarbeit. Das klingt doch nach dem typischen Highperformer.
Luca-Leander Wolz
ist Psychologe, Psychotherapeut in Ausbildung und Doktorand der klinischen Psychologie. Auf dem Instagram-Account „psychologeluca“ setzt er sich mit den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Psyche auseinander und vermittelt psychologische Themen aus einer kritischen Perspektive.
Wolz: Ja, das ist ein Paradoxon, welches ich mir auch selbst bewusst bin. Ich würde mich auf gar keinen Fall als Highperformer bezeichnen, weil ich diesen Ausdruck nicht gerne mag. Ich bin eher in einer sehr privilegierten Situation, dass ich die Ausbildung machen darf, dass ich eine Promotionsstelle bekommen habe, dass ich auf Instagram Content für mehrere zehntausend Menschen machen darf. Meine unterschiedlichen Tätigkeiten geben mir das Gefühl von Selbstwirksamkeit, woraus ich sehr viel Energie ziehe und was ich sehr wertzuschätzen weiß. Nichtdestotrotz versuche ich mich auch bewusst bestimmten Leistungsnarrativen zu entziehen und meinen Alltag ganz bewusst zu entschleunigen.
taz: Ein wiederkehrendes Thema in Ihren Beiträgen ist das Thema Freund*innenschaft. Warum kommen Sie so häufig zu dieser Form der Beziehung zurück?
Wolz: Das hat vor allem auch den persönlichen Grund, dass ich Freund*innenschaften für mich als total wichtig und wertvoll empfinde. Meine Freund*innenschaften stellen eine große Ressource für mich dar. Ich spreche auch darüber, um eine höhere kollektive Wertschätzung zu generieren, weil innerhalb unserer Gesellschaft romantische Beziehungen einen relativ hohen Stellenwert haben, während Freund*innenschaften häufig weniger wertgeschätzt werden.
taz: Und was hat das mit psychischer Gesundheit zu tun?
Wolz: Statistiken zeigen, dass sich Menschen zunehmend einsam fühlen und wir aufgrund des Abbaus kollektiver Begegnungsstätten zunehmend in Vereinzelungsspiralen hineingezogen werden. Und ich glaube, dass Freund*innenschaften da ein gutes Gegenmittel sein können, die unsere psychische Gesundheit stärken. Ich würde es aber auch nicht auf Freund*innenschaften reduzieren, sondern grundsätzlich auf kollektiv-solidarische Methoden oder Lösungen ausweiten. Die Suche nach gemeinsamen Lösungen, nach kollektivem Wohlergehen kann sehr ermächtigend sein.
taz: Ich erkenne jetzt also all die strukturellen Ursachen meiner psychischen Erkrankung. Was bringt mir das? Macht das eine Veränderung nicht noch unerreichbarer?
Wolz: Das ist eine sehr legitime und valide Frage, letzten Endes ist es auch eine sehr individuelle Frage. Ein Bewusstsein dafür, dass die eigenen Probleme oder die Erkrankung nicht in einem persönlichen Versagen liegen, kann für viele eine Erleichterung bieten. Es kann eine andere Selbstwahrnehmung ermöglichen, welche die Verantwortung nicht nur bei einem selbst verankert, sondern auch äußere Faktoren mit einbezieht.
taz: Aber es entlastet nicht alle.
Wolz: Es kann auch dazu führen, dass man zunehmend ein Gefühl von Ohnmacht bekommt, davon, sowieso nichts verändern zu können. Genau da lohnt es sich dann konkret anzusetzen und zu überlegen: Was gibt es für Alternativen, was gibt es für weitere Handlungsspielräume, an denen man ansetzen kann?
taz: Haben Sie dafür Beispiele?
Wolz: Ich schlage öfter vor, sich kollektiv zu organisieren. Da gibt es bereits tolle Initiativen, wie das Polyklinik-Syndikat, welches strukturelle Aspekte in der Gesundheit berücksichtigt. Oder der Ansatz der kollektiven Selbstverständigung, welcher auf der Kritischen Psychologie fußt und das Potenzial hat, neue individuelle und kollektive Handlungsspielräume zu eröffnen.
taz: Welchen Effekt können solche kollektiven Momente haben?
Wolz: Es kann sehr kraftvoll sein, wenn man das Gefühl bekommt, etwas verändern zu können, vor allem gemeinsam. Was hier auch eine wichtige Rolle spielt, ist der Aspekt der Hoffnung. Vielleicht ist die Zuversicht, dass sich die Verhältnisse ändern, nicht unbedingt hoch. Aber die Hoffnung kann einen dazu befähigen, weiterzumachen und an guten Dingen zu arbeiten. Und das kann, glaube ich, total gewinnbringend für einen selbst und für unsere Gesellschaft als Ganzes sein.
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