: Baseballschläger machen noch keine Hools
Mit Gewalt berühren/ Kein Krieg beginnt mit dem ersten Schuß/ Über sichtbare und unsichtbare Gewalt reden ■ Von Gerhard Mühlhausen
Halle. Der Kanzler der Pädagogischen Hochschule Halle-Köthen hatte den Physik-Hörsaal der ehemaligen DDR-Lehrerschmiede samt mittelalterlicher Tontechnik wohl auch aus schlechtem Gewissen der Podiumsdiskussion „Jugend und Gewalt“ zur Verfügung gestellt.
Ganz sicher spielten aber Vorgänge in der Saale-Stadt die Hauptrolle. Sichtbare und unsichtbare Gewalt eskalieren, administrierte staatliche wird durch ausufernde individuelle ergänzt. Der Ruf nach der Polizei als vorletztem oder letztem Mittel zur Konflikt-„Lösung“ verhallt immer öfter ungehört.
Die Damen und Herren können ihn nicht hören. Sie sind entweder im Vorruhestand oder zu einem Lehrgang in den alten Bundesländern. Der Rest, oft genug an der Grenze des Möglichen arbeitend, ist nicht nur personell überfordert.
Wie entsteht Gewalt? Ist sie unumgänglich? Wie gehen wir damit um? Obwohl uralte Fragen, in den neuen Bundesländern aktueller denn je. Der Leiter des halleschen Jugendamtes Lothar Rochau und die Sozialarbeiterin Christine Günther organisierten die Podiumsdiskussion. Dr. Maaz, ostdeutscher Psychotherapeut mit der größten Fangemeinde, hätte wohl allein den Hörsaal gefüllt (Gefühlsstau). Diskutiert werden sollte weiterhin mit Knastpfarrer Kleemann von der Paulsgemeinde, dem Oldenburger Verwaltungshelfer (mit Ostschmutzzulage?), Polizeidirektor Gaede und der Dokumentarfilmerin Rita Lorenz vom Sender Sachsen-Anhalt.
Günther provozierte mit dem Satz „Mit Gewalt berühren“ einen produktiven Diskussionseinstieg, der von Maaz weitergeführt wurde: „Ich tue mir Gewalt an, wenn ich innere Impulse immer wieder unterdrücke. Depressionen und/oder Gewaltgelüste sind die Folgen.“
Auch Rochau sieht jugendliche Gewaltaktionen eher als Ergebnis spontanerer, empfindsamerer Reaktionen auf eigentlich von niemandem mehr zu übersehende Mißstände. Und während der knasterfahrene Pfarrer von der Ambivalenz persönlicher Gewalterfahrung — Autofahrer/Radfahrer — spricht, stellt Polizeidirektor Gaede schon mal die Frage: „Ist Gewalt nicht eigentlich systemimmanent?“
Allerdings glänzt er anschließend mit Ratgeber-Kriminalität-Tips wie: „Kaufen Sie sich vernünftige Schlösser für ihre Wohnungstüren!“ oder „Wenn Sie nun schon vergewaltigt werden, wehren Sie sich nicht. Das führt häufig zu schwersten Verletzungen.“ Oder: „Helfen Sie sich zuallererst selbst. Die Polizei kann nicht überall sein.“ Er katapultierte sich rekordverdächtig ins Abseits.
Vorwürfe aus dem Publikum an gewisse Medien, die scheinbar krankhaft an Konfliktzuspitzung interessiert seien. Vorwürfe auch an untätige Politiker, die, selbst in Macht-(Gewalt-)Positionen lebend, nicht für fähig gehalten werden, diese Probleme wirklich zu lösen. Lorenz, die gerade einen Dok-Film in der Szene gedreht hatte: „Unter den Hooligans haben nur noch rund zehn Prozent eine Arbeit. Sie werden ausschließlich im Zusammenhang mit Gewalt regelrecht durch die Medien gezogen. Sie haben Angst, vergessen zu werden und haben in den kurzen Stadionräuschen vermeintlicher Gemeinsamkeit vielleicht die letzten positiven Erlebnisse.“ Wer „Ihr wollt nichts von uns wissen, also wundert Euch nicht darüber, wie wir sind“ auf sein Transparent schreibt, will vielleicht doch noch etwas, hat vielleicht doch noch eine Sehnsucht. Und Ausgrenzung hat noch immer zur Radikalisierung jeder Art geführt. Nicht nur Jugendlicher. Bezeichnenderweise vielleicht waren aber wieder sie in den Mittelpunkt dieser Diskussion geraten. Die Gewalt elterlicher oder staatlicher Erziehung etwa, die anfänglich von Dr. Maaz angesprochen wurde, die Gewalt, die von Politikerreden ausgeht und etliche andere Aspekte blieben in den drei Stunden leider unberücksichtigt.
Kein Krieg beginnt mit dem ersten Schuß, Hooligangewalt nicht mit dem Kauf eines Baseballschlägers. Das große und unübersichtliche Um- und Vorfeld sollte nicht nur von einem unterbesetzten Jugendamt bearbeitet werden. Vierzig kostenlose einwöchige Wien-Reisen für Jugendliche, eine gemeinsam mit Hools besetzte und später legalisierte Wohnung, ein Wohnprojekt für und mit Rechten (in Arbeit) und ständige Kontakte des Jugendamtes mit der Szene sind Tropfen auf einen heißen Stein. Die Flut steht noch aus. Lehrstellen, Freizeitangebote, Arbeitsplätze, Zukunft.
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