Barbara John über Migration: „Die Integrationspolitik war töricht“
Sie war die erste Integrationsbeauftragte Berlins. In ihrer CDU wurde sie als „Türken-Bärbel“ belächelt, Flüchtlinge nannten sie „große Schwester“.
taz: Frau John, Sie sind umtriebig wie eh und je – oder täuscht der Eindruck?
Barbara John: Ich finde, ich bin sogar noch umtriebiger geworden. Denn ich glaube auch an ein Leben vor dem Tod und zwar überzeugter als an den sedierenden Satz vom „wohlverdienten Ruhestand“.
Sie haben mal gesagt, der Zeitpunkt, mit der Arbeit aufzuhören, ist, wenn der Sensenmann kommt.
Daran hat sich nichts geändert.
Was treibt Sie an?
Solange ein Mensch etwas bewegen kann, mobil ist, klar denken kann, hat er geradezu die Aufgabe, sich für die Welt und für andere Menschen zu interessieren. Und das aus sich herauszuholen, was er kann, um das Geschehen ein bisschen besser zu machen. Besonders auf den Feldern, wo ich viel Erfahrung habe. Das ist eigentlich alles.
Bei Ihnen ist das die Migrations- und Integrationspolitik.
Nicht nur. Als Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bin ich auf vielen sozialen Feldern tätig. Im Moment sind Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit wichtige Themen, aber auch Behindertenpolitik, Jugendpolitik und Bildungspolitik.
Noch mal: Was ist Ihre Triebfeder?
Ich weiß nicht, was Sie hören wollen. Ich bin da. Das ist meine Triebfeder. Die Welt ist da und andere Menschen sind da und ich setze mich in Beziehung. Es ist geradezu trivial.
Der Mensch: Barbara John, am 18. Januar 1938 in Berlin geboren, wuchs in Kreuzberg auf, wo ihr Vater, ein Kerzenmacher, seine Werkstatt hatte. Nach dem Abitur studierte sie in Lüneburg auf Lehramt. Nach einem Zweitstudium wurde sie zudem Diplompolitologin. Von 1961 bis 1966 arbeitete sie als Lehrerin in Hamburg, danach entwickelte sie an der FU Berlin Deutschbücher für fremdsprachige Kinder.
Die Beauftragte: 1981 ernannte sie der regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker (CDU) zur ersten Ausländerbeauftragten des Berliner Senats. John, bis heute CDU-Mitglied, wurde zu einer gewichtigen Stimme in der Migrations- und Integrationspolitik. Nach fast 22-jähriger Dienstzeit wurde sie 2003 pensioniert. Ihr Angebot, die Arbeit als Ehrenamtliche fortzusetzen, lehnte der rot-rote Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ab. Seither engagiert sie sich auf vielfältige Weise in der Sozial- und Migrationspolitik, etwa als Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin. Seit 2011 ist Barbara John Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU-Terrors. 2015 gründete sie eine Onlinearbeitsvermittlung für Flüchtlinge. Auch für das „House of One“, das in Berlin gebaut wird, setzt sie sich ein. Es handelt sich um eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee unter einem Dach. plu
Als Sie 1981 vom Bürgermeister Richard von Weizsäcker (CDU) zur Ausländerbeauftragten des Senats ernannt wurden, hieß es, Sie seien in Deutschland die Erste dieses Fachs. Das war aber gar nicht so.
In der Bundesregierung gab es damals schon Heinz Kühn, gefolgt von Liselotte Funcke. Aber der Bund ist zuständig für die Einwanderung und Auswanderung. Integration – das war der Schwerpunkt meiner Arbeit – ist Aufgabe der Länder. Insofern war ich für Integrationspolitik tatsächlich die Erste. Viele Bundesländer haben nach einer Zeit des Abwartens und Beobachtens, wie das in Berlin läuft, dieses Amt dann auch eingeführt. Plötzlich ging das ruckzuck.
Wo ist Deutschland heute im Zusammenleben mit den Einwanderern angekommen?
In der Realität. Das war ja jahrzehntelang nicht der Fall. In den 70er und 80er Jahren wurde ausweislich des Namens Gastarbeiterpolitik betrieben: Wen wir brauchen, der darf kommen, aber keine Wurzeln schlagen. Eine naive und törichte Politik, die nirgendwo nach diesem Strickmuster funktioniert, weil Menschen keine Arbeitsroboter sind. Sie gehen Bindungen ein, denken, fühlen und beginnen, sich und andere zu verändern unter neuen Bedingungen. Heute weiß man es besser: Gerade Arbeitsmigration ist nicht umkehrbar. Und Einwanderung hat tiefgreifende Folgen für alle. Deshalb sollte die Politik bei Einwanderung immer auf die Temperatur in der Bevölkerung achten. Insbesondere dann, wenn sehr viele Menschen kommen und die Gesellschaft darauf nicht vorbereitet ist.
In den vergangenen Jahren ist die Zahl fremdenfeindlicher Gewalttaten wieder extrem gestiegen. Ist es für Zuwanderer kälter geworden in Deutschland?
Angefangen hat es im Jahr 2015, als schlagartig eine unerwartete hohe Zuwanderung von Flüchtlingen einsetzte: Es gab Brandanschläge auf Asylbewerberheime, Menschen wurden auf offener Straße geschlagen oder diffamiert. Die Schwerpunkte lagen in den neuen Bundesländern, in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Was sagt das aus? Die Täter verletzen das wichtigste Gesetz in jeder Gesellschaft: keine Gewalt. Dafür müssen sie zur Verantwortung gezogen werden. Und für die Politik gilt: Zuwanderung über unkontrolliert offene Grenzen zuzulassen und erst mal für alternativlos zu erklären, kann Hilfsbereitschaft, aber auch tätliche Aggressionen hervorbringen. Beides ist passiert. Einwanderungspolitik braucht aber einen breiten Konsens der Steuerzahler und Wahlbürger.
Auch in den westlichen Bundesländern kam und kommt es zu fremdenfeindlichen Taten.
Ja, aber die Übergriffe in den neuen Bundesländern waren zahlreicher. In gewisser Weise war das vorhersehbar. Wir hatten ja vorher Rostock …
Empfohlener externer Inhalt
Die Integrationsbeauftragte
… im August 1992. Die Übergriffe auf eine Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein von Vietnamesen bewohntes Heim im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen zogen sich tagelang hin.
Wir hatten weitere Tatorte. Hoyerswerda. Es gab etliche Dinge, die damals vorhersehbar waren: dass eine Bevölkerung, die bisher kaum unmittelbare Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen hatte, abwehrend, und zwar nicht nur verbal abwehrend, sondern auch tätlich reagiert.
Wir sprechen immer noch von der Zeit nach der Wende?
Ja, wir sprechen von den 90er Jahren, als auch in Ostberlin zwei Vietnamesen auf offener Straße erschlagen und andere schwer verletzt wurden. Ich habe zweimal einen Trauerzug begleitet. Ich kann mich erinnern an besorgte türkischstämmige Eltern, die nicht wollten, dass ihre Kinder die Oberstufenzentren und Berufsschulen in den Ostberliner Bezirken besuchen. Ratschläge kursierten innerhalb der migrantischen Communities: Tankt bloß nicht an Tankstellen zwischen Berlin und Marienborn und Helmstedt. Da kann euch etwas passieren. Also, da waren erhebliche Zeichen, wie das Klima sich da entwickelt hat. Und so ein Klima vergeht natürlich nicht, eins, zwei, drei, 20 Jahre später.
Was wurde versäumt?
Die Politik hätte die Wirkungen der Rekordeinwanderung über offene Grenzen besser einschätzen und ununterbrochen mit der Bevölkerung darüber sprechen müssen. Sie hätte um Vertrauen und Verständnis werben müssen.
Die politisch Verantwortlichen sind also mitschuldig an den Übergriffen?
Blame and shame ist Kindergartentalk. Ich versuche, die Situation zu beschreiben, die fremdenfeindliche Ausbrüche verursachen kann.
In der Flüchtlingsfrage gibt es zwei Extrempositionen. Offene Grenzen und Abschottung. Was ist Ihre Grundhaltung?
Die schlechteste Politik ist die Festung Europa: Niemand kommt rein. Die zweitschlechteste ist, alle, die wollen, einwandern zu lassen. Offene Grenzen bedeutet, den Schleppern in die Hände zu spielen, permanent abschieben zu müssen, und den vielen Flüchtlingen in den Erstaufnahmeländern kaum zu helfen. Zuwanderung und die Aufnahme von Flüchtlingen muss man steuern.
Geht das konkreter?
Nehmen wir den syrischen Fall. Viele Flüchtlinge leben ja in den Nachbarregionen, in der Türkei, in Jordanien, im Libanon, in Ägypten. Wir müssten über große Resettlement-Programme Menschen herholen, die den Schutz wirklich brauchen. Was wir jetzt machen, ist sehr selektiv. Wir nehmen vor allem diejenigen auf, die genügend Geld und Kraft haben, hierher zu kommen. Wir brauchen heute ein vollkommen neues Schutz- und Hilfesystem für Flüchtlinge weltweit. Das kann die Bundesrepublik natürlich nicht alleine machen, aber sie muss den Anstoß geben.
Bei den Sondierungen für eine große Koalition haben CDU/CSU und SPD beschlossen, Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutzstatus nur einen ganz begrenzten Familiennachzug zu ermöglichen. Damit wurde diesen Menschen jede Hoffnung genommen.
Das stimmt doch gar nicht. 1.000 Angehörige im Monat können kommen. Das sind 12.000 im Jahr. Ihnen ist nicht jede Hoffnung genommen. Im Gegenteil: Sie sehen, es geht los. Die Botschaften wären ohnehin nicht in der Lage, mehr Anträge schneller zu bearbeiten.
Bis sie an der Reihe sind, sind die Kinder der nach Deutschland geflohenen Väter groß. Wo bleibt der christliche Anspruch?
So würde ein Kardinal reden. Aber die taz?
Sie sind Vorsitzende des Katholischen Frauenbundes.
Und Bürgerin in einer säkularen Gesellschaft. Da geht es nicht um die richtige moralische oder religiöse Gesinnung, sondern um den Zusammenhalt der pluralen Bevölkerung.
Die Familie ist auch vom Grundgesetz geschützt.
Ja, natürlich. Ich habe gerade versucht zu erklären, dass durchaus Hoffnung eröffnet worden ist. Angedacht war ja von der CDU/CSU, dass der Familiennachzug für subsidiär Geschützte ab März gar nicht mehr gestattet wird. Außerdem: Wäre es nicht richtig, dass auch Syrer zurückkehren, langfristig und wenn möglich, um ihr Land wieder aufzubauen?
In der Öffentlichkeit sind Sie eine wichtige Stimme. Am Jahrestag des Anschlags auf dem Breitscheidplatz haben Sie sich über die Floskeln von Politikern beschwert. Was ärgert Sie da?
Sie gehen am Leiden der Menschen, die einen Angehörigen durch Terror verlieren, vorbei. Formeln wie „Wir machen einfach so weiter“, „Wir verändern unser Leben nicht“, „Es geht um unsere Werte“ sind zu leer.
Wenn es um Runde Tische geht, werden Sie oft als Vermittlerin gerufen. Zum Beispiel von den Rentnerinnen, die in Pankow um ihren Treffpunkt kämpften, oder von den Flüchtlingen auf dem Oranienplatz. Und Sie sind Ombudsfrau für die Opfer des NSU. Welche Frage treibt Sie und die Angehörigen am meisten um?
Diese damalige Vorurteilslastigkeit von Sicherheitsbehörden, Justiz und Verfassungsschutzämter. Das zeugt davon, dass diese wichtigen Akteure längst noch nicht auf ihre Aufgabe in einem Einwanderungsland vorbereitet sind. Der Vorsitzende der Bundespolizei sagt: Rassismus, Ausländerfeindlichkeit kann es gar nicht geben bei der Bundespolizei. Das verbieten die Vorschriften. So einfach kann man sich das machen.
Stimmt es, dass Sie für türkische Migranten ein besonders großes Herz haben?
Als ich in Berlin die erste Ausländerbeauftragte wurde, hatten wir eine ausgesprochen starke Zuwanderung von türkischen Bürgern. Dass man da besonders häufige und enge Kontakte hat, ist doch normal. Jeden Monat, 22 Jahre lang, habe ich einen Familienbesuch bei türkischen Familien gemacht. Die haben dann ihre deutschen Freunde eingeladen und wir haben über Probleme gesprochen. Es gab viele Härtefälle, die man lösen konnte. Ich weiß sehr zu schätzen, dass mich die türkischen Migranten „Abla“ genannt haben. Das heißt große Schwester, wissend um ihre Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen.
In Ihrer Partei, der CDU, gab es damals Leute, die Sie „Türken-Bärbel“ nannten. Haben Sie das als Beleidigung empfunden?
Warum sollte ich? Wenn sich Bärbel um Türken kümmert, ist doch alles okay. Auch zu Hause hieß ich Bärbel.
Zu Hause, das war wo?
Ich bin eine waschechte Kreuzbergerin, aufgewachsen in der Reichenberger Straße 12, sozialisiert in den Kreisen der kleinen Gewerbetreibenden. Mein Vater hat vor und nach dem Krieg in der Prinzenstraße Kerzen hergestellt. Ich habe da auch immer mitgewerkelt. Mein Bruder lebt in den USA, ausgewandert 1957 als Arbeitsmigrant.
Was hat Ihre Mutter gemacht?
Als mein Vater Soldat war, hat sie uns zu den Großeltern nach Schlesien gebracht – noch bevor die Reichenberger Straße 12 ausgebombt wurde. Sie selbst ist zurück und hat die Kerzenmacherei weiter betrieben, bis Berlin in den Bombenangriffen versank. Dann kam sie auch nach Schlesien. Zweimal mussten wir danach flüchten. Zuerst kamen die Russen, dann kamen die polnischen Umsiedler, vertrieben von den Russen.
Hat das Ihr Bewusstsein für Themen wie Flucht und Vertreibung geschärft?
Das kann man sich so zurechtlegen. Da meine Mutter uns immer beschützt hat, empfand ich das als ein großes Abenteuer, aber auch als eine Hunger- und Entbehrungszeit.
Was ist aus den Eltern geworden?
Mein Vater ist mit 75 gestorben. Im Krieg hatte er sich das Kettenrauchen angewöhnt. Sein Herz war schwer geschädigt. Meine Mutter hat bis ins hohe Alter am Oranienplatz gelebt. Sie ist 92 Jahre alt geworden. Als sie starb, war ich bei ihr. Auch in diesen Momenten habe ich noch viel von ihr gelernt: was für eine starke und nüchterne Frau sie war. Ich hoffe, ich kann ihr da nacheifern.
Sind Sie heute noch öfter in Kreuzberg?
Ab und zu, na klar. Es gibt da ja viele Sozialprojekte und auch Kuchen-Kaiser, das finde ich schön, das kannte ich schon als Kind. In dem gegenüberliegenden Haus, wo jetzt das Orania ist …
… das neue Hotel …
… war vorübergehend auch ein türkischer Hochzeitssalon. Der Lärm der Feiern donnerte zur Wohnung meiner Mutter herüber. Sie war wütend.
Sie haben immer für Gelassenheit im Umgang mit anderen Kulturen plädiert. Wie lautet Ihre Message?
Wenn man ein Einwanderungsland ist, und das sind wir ja schon seit vielen Jahrzehnten, müssen alle Großmut, Toleranz und Geduld aufbringen, Einheimische wie Einwanderer. Aber selbstverständlich gibt es auch Grenzen der Toleranz.
Wann ist die Grenze erreicht?
Bei Zwangsheiraten, Bildungsverweigerung durch Eltern und Pascha-Gehabe gegenüber Frauen. Bei Gesetzesverstößen darf es – wie vorgekommen – keinerlei kulturelle Rabatte geben.
Frau John, Sie sind gerade 80 geworden. Hat Altsein auch Vorteile?
Na klar, man lebt länger, man lernt sich besser kennen und man kratzt an Tabus.
Wird man von Leuten manchmal belächelt von wegen: Was will die denn noch?
Kommt vor. Ich wünsche ihnen dann in Gedanken ein sehr langes Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt