: Bar jeder Hoffnung
■ Robert Menasses Rückentwicklungsroman „Sinnliche Gewißheit“
„Ich wollte nur sagen, daß ich dieses bedingungslose Hererzählen von Geschichten, die man erlebt oder sonst was hat, verabscheue, dieses soziale Beichtsystem, in dem nicht Interesse an Wissen, sondern nur an Mitwisserschaft herrscht.“ Auf jeder Seite seines Debütromans „Sinnliche Gewißheit“ demonstriert der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, daß er nicht an Geschichten, sondern einzig und allein an „Wissen“ interessiert ist. Die Neugier von der falschen Seite braucht er nicht zu befürchten, denn er setzt Kenntnisse voraus. Er kommt mit nichts weniger als dem unverschämten Anspruch daher, einen mit philosophischer Reflexion gesättigten Roman zu schreiben, der vom Bewußtseinsniveau der „Theorie des Romans“ von Georg Lukacs, dem „Zauberberg“ von Thomas Mann und der „Phänomenologie des Geistes“ von G.W.Hegel ausgeht.
Schon die ersten beiden Sätze des Romans, scheinbar sinnlose Negationen, stecken den literarischen Bezugsrahmen ab, in dem sich der Autor bewegt: „Hier ist nicht Einfried, das Sanatorium. Mein Vater war kein Kaufmann.“ Nicht auf einen „Zauberberg“, sondern in die profane Spelunke einer brasilianischen Großstadt verlegt Robert Menasse den Schauplatz seines Romans „Sinnliche Gewißheit“.
Roman Gilanian, ein junger Literaturwissenschaftler aus Wien, arbeitet als Gast-Lektor am Germanistischen Institut der Universität Sao Paulo und nutzt fast jede freie Minute zu Aufenthalten und schwindelerregend philosophischen wie auch abgrundtief banalen Gesprächen in der „Bar Esperan?a“, von ihren Stammgästen liebevoll „Bar jeder Hoffnung“ genannt. Nicht im Sanatorium Einfried, sondern in der Tristesse der „Bar jeder Hoffnung“ treffen die Protagonisten des Romans zusammen, um die Leere ihrer Existenz mit Alltagsgewäsch, etlichen Caipirinhas (eine Art Zuckerrohrschnaps) - oder eben mit Diskursen über das erste Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ aufzufüllen.
In diesem Petit Hotel Abgrund trifft der Ich-Erzähler auf den Privatgelehrten Leo Singer. Eine Figur, in die Menasse in parodistischer Manier die Züge von Georg Lukacs eingezeichnet hat - desselben Lukacs, der im „Zauberberg“ als „Leo Naphta“ auftritt. In sein intimes Kabinett voll versteckter Anspielungen, Zitate und Kalauer hat Menasse auch einen Brief von Thomas Mann aufgenommen, in dem der junge Lukacs charakterisiert wird. Dies geschieht am Ende der „Sinnlichen Gewißheit“, wenn der Ich-Erzähler noch einmal dem Hegel-Exegeten Singer begegnet, der ihm in einer Franziskaner-Kutte entgegentritt: „Solange er sprach, hatte er recht ... Danach blieb in mir nur der Eindruck fast unheimlicher Abstraktheit zurück, aber auch derjenige der Reinheit und des intellektuellen Edelmuts.“
Unheimlich abstrakt bleibt denn auch, was Leo Singer und sein Bewunderer Roman Gilanian über die „Sinnliche Gewißheit“ als „Charakteristikum unserer Zeit“ mitzuteilen haben. Im Grunde geht es um die Entfaltung der These, daß „der Einzelne“, d.h. der Metropolenbewohner der westlichen Welt, im Zuge allgemeiner Regression des Denkens wieder bei der „Sinnlichen Gewißheit“, nach Hegel die primitivste Stufe menschlichen Bewußtseins, gelandet ist. „Das Leben des Einzelnen, das heißt aber auch das, was der Einzelne zu denken imstande ist oder sein wird, ist unter dem Vorwand einer unendlichen Vielfalt so reduziert und beschränkt und dumm wie auf der primitivsten Stufe des menschlichen Geistes. Das herrschende Bewußtsein ist ein Baby-Bewußtsein, weil das Fortschrittsdenken übergeschnappt ist ...“
Der Illustration dieser These dienen die einzelnen Episoden des Romans, in deren Verlauf sich der Held immer stärker im Reflexionszwang verheddert. Selbst die Sexualität gerät in den Strudel unendlicher Reflexion. Die erotischen Begegnungen, die die Genußfähigkeit des Helden auf eine harte Probe stellen, sind grausige Szenarien der Entfremdung. Wie Marionetten, die an von ihnen selbst gelenkten Fäden hängen, bewegen sich die Roman-„Figuren“ durch die Welt der Gefühle: Jede Spontaneität und Unmittelbarkeit ist ihnen ausgetrieben. Menasse kultiviert ein Erzählen, das eingeschnürt ist von der Kälte des Begriffs: Immer wieder ertappt sich der Autor auf frischer Tat, wenn er leere, vorgefertigte Sätze über Ereignisse oder Empfindungen stülpen will. Das führt zu einem grotesken Spiel mit Paradoxa und Negationen, die ständig den Erzählfluß unterbrechen.
Vielleicht hat der Rowohlt-Verlag seinem Publikum die philosophische Überanstrengung des Schriftstellers Menasse nicht so recht zumuten wollen und seinen Roman daher in die Taschenbuchreihe verbannt. Tatsächlich läßt sich einiges einwenden gegen die Dreistigkeit, mit der Menasse seine verschwitzten Boheme-Jahre in Brasilien (er hat wie sein Held von 1981 bis 1986 an der Universität von Sao Paulo gelehrt) mit philosophischem Sprengstoff auflädt. Dennoch ist die Konsequenz bewundernswert, mit der Menasse das kühne Projekt seines „umgedrehten Entwicklungsromans“ durchführt: „... eines Rückentwicklungsromans, der am Beispiel eines Individuums zeigt, wie dessen Hoffnungen, Fähigkeiten, Talente ... dazu verurteilt sind, zu verkümmern und ... zu banalen, durchschnittlichen Idiosynkrasien werden, mit denen er einen Alltag meistert oder auch nicht, der lediglich an Beliebigkeiten reich ist.“
Am Ende löst sich der „Rückentwicklungsroman“ in - was sonst? - Paraphrasen auf. Und Leo Singer dekretiert: „Nichts ist schrecklicher als die Vollendung.“
Michael Braun
Robert Menasse: Sinnliche Gewißheit. Reinbek Rowohlt Taschenbuch Verlag 1988 (rororo 12248). 314 S. 10,80 DM.
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