Balkanländer treten Schengen bei: Zum Kaffeetrinken nach Europa
Seit Samstag dürfen die Bürger Serbiens, Mazedoniens und Montenegros visafrei in die Schengen-Staaten reisen. Damit wird für viele Menschen ein Traum wahr.
![](https://taz.de/picture/327317/14/serbien_05.jpg)
Seit Tagen schneit es in Serbien. Die Temperatur sinkt auf bis zu minus zwölf Grad. Der serbische Automobilverband empfiehlt Autofahrern, ohne besonderen Grund nicht zu verreisen. "Das gilt nicht für mich, nicht heute", sagt Aleksandar Todoroviç lächelnd und schaltet das Radio leise. Er fährt langsam.
Seinen alten Fiat Zastava 101 aus der serbischen Autofabrik Zastava hat er für diese kurze Reise an diesem besonderen Tag aufgemöbelt: Die Winterreifen sind neu, das Öl gewechselt und das Auto gründlich gewaschen. Aleksandar hat eine internationale Autoversicherung, einen internationalen Führerschein und den neuen serbischen biometrischen Reisepass besorgt. Heute, am 19. Dezember 2009 und damit dem Tag, an dem die Bürger Serbiens visafrei in die Schengen-Staaten reisen können, ist er startbereit.
"Europa, ich komme", sagt Aleksandar und lacht. Europa ist in diesem Fall die Stadt Szeged in Ungarn. Dort will Aleksandar einen Kaffee trinken, eine ungarische Salami kaufen und dann wieder die 250 Kilometer zurück nach Belgrad fahren. Ohne besonderen Anlass - einfach so.
Für den gelernten Friseur reicht das Geld momentan nicht für mehr, doch "dieses Gefühl der Freiheit" habe keinen Preis. Allein ein Schengen-Visum, für das man bisher eine erniedrigende Prozedur über sich ergehen lassen musste, kostete mehr, als Benzin und Maut bis Ungarn.
Gane, wie ihn seine Freunde nennen, grinst während der ganzen Fahrt. Für ihn geht an diesem Samstag ein Traum in Erfüllung: Sich einfach ins Auto zu setzen und in einen EU-Staat zu fahren. Rund 70 Prozent der jungen Serben waren nie im Ausland.
Gut gelaunt hört sich Gane die Nachrichten im Radio an. Man feiert einen "historischen Tag". Menschen, die sich über die neue Freiheit freuen, melden sich zu Wort. "Serben, willkommen in Europa" titelte am Samstag die Belgrader Tageszeitung Vecernje novosti. Eine Minute nach Mitternacht erleuchtete ein Feuerwerk die serbische Hauptstadt. Mit einer Gruppe von fünfzig Serben, die nie in Europa waren, flog Serbiens Vizepremier, Bozidar Djeliç, von Belgrad nach Brüssel, wo sie von Funktionären des EU-Vorsitzenden Schweden und Erweiterungskommissar Oli Rehn empfangen wurden.
Serbiens Außenminister Vuk Jeremiç überquerte als erster serbischer Staatsbürger die Grenze zu Ungarn am Grenzübergang Horgos. "Das funktioniert also", sagte er lakonisch. Nie war die EU so konkret spürbar in Serbien.
Vor Horgos wirkt Gane doch ein wenig nervös. Seit er denken kann, hat er auf diesen Augenblick gewartet. "Was, wenn die Ungarn doch noch ein Papier verlangen", fragt er. Als er sieht, wie einige junge Menschen aus einem Auto mit Belgrader Kennzeichen steigen und zu Fuß lachend mit hoch erhobenen biometrischen, roten serbischen Pässen die Grenze passieren, entspannt sich Gane wieder. Wenige Minuten später ist er in der EU.
Serbische TV-Sender zeigten Szenen von glücklichen Menschen auch von Grenzübergängen nach Bulgarien und Rumänien. Ähnlich war es in Montenegro und Mazedonien, für deren Staatsbürger die Visapflicht für Schengen-Staaten ebenfalls aufgehoben wurde. Ab dem 1. Januar öffnet sich Serbien erstmals für Billigfluglinien. Selbst die größten EU-Kritiker in Serbien sind verstummt. Nach fast zwei Jahrzehnten und unzähligen Phrasen scheint Europa für die Bürger Serbiens greifbar nahe zu sein. Am Dienstag will Belgrad offiziell einen Antrag auf Aufnahme in die EU stellen.
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