Bachmann-Preis 2015, 1. Tag: Missbrauch eines One-Night-Stands
Nabelschau, große Gefühle und ein bisschen Sex: Am Donnerstag begann das Wettlesen um den Bachmann-Preis. Eine Favoritin gibt es schon.
Den Anfang in schwarz also macht Katerina Poladjan, eine gebürtige Moskauerin, die seit 1979 in Deutschland lebt und gestern noch gefragt hatte, ob nicht jemand mit ihr tauschen will – als bei der Eröffnungsfeier ausgelost wurde, dass sie sich als erste der Jury stellen muss. Ihre Geschichte ist die von Ann und Luc, zwei sich Fremden, die im Bett landen. Es ist aber auch die Geschichte von Ann und Ed, ihrem verstorbenen Mann, an den Ann denkt, während sie sich mit Luc die Matratze teilt. Und es ist die Geschichte von Theo, Anns Sohn, der leidet, wie alle Beteiligten innerhalb dieser komplexen Konstellation leiden: Einer vermisst seinen Vater. Eine vermisst ihren Mann. Einer vermisst ein anderes Leben. Einer ist tot. Okay, der hat vermutlich ausgelitten.
Und so fragt Hildegard Elisabeth Keller, Literaturwissenschaftlerin und schon lange Jurorin beim Bachmann-Preis, auch bald, um wen es denn, bei derlei vielen Perspektivwechseln, vordergründig geht. „Welche Figur steht eigentlich im Zentrum?“ Hubert Winkels, zum ersten Mal Juryvorsitzender in Klagenfurt, erkennt trotz ruhiger Erzählweise, die einen „sanft mitträgt“, in Poladjans Textaufbau den „Missbrauch eines One-Night-Stands“. Unendlich viel hänge an dem: Der Tod ihres Mannes. Die Verzweiflung des Sohnes. Ann-Ed-Ann-Luc-Theo-Ann. „Das ist zu viel für ein bisschen Sex.“
Nee, wird Juri Steiner später finden – bis dahin mäandern die Urteile von „a bisserl zu brav“ über „in seiner Machart perfekt“, zu Beginn hätte man sich eher „einen grottenschlechten Text gewünscht“; hin zu „unglaublich stimmungsstark, wie ein Trompetenspiel von Miles Davis“. Steiner nun ist seit 2013 Juror und beim Thema Sex superwach – das Problem, sagt er, sei ein ganz anderes als das, worüber man rede: „Nämlich, dass wir zu orgiastisch denken.“ An keiner Stelle sei der Geschichte zu entnehmen, dass es – ausgezogene Stiefel hin oder her – tatsächlich einen One-Night-Stand gegeben hat. Einzig wir, die Leser, nähmen das an, „wenn wir nach diesem Orgasmus hecheln“. Lacher im Publikum, Aha-Effekt bei Winkels: Ist ja wie bei den Clintons hier! Zumindest wird dieselbe Frage gestellt. „Wann fängt Sex an?“
Stickig und heiß
Zweite Leserin ist dann direkt eine, die umhaut. Mit Favoritenpotenzial und einer Wucht trägt sie ihren Text vor, dass es Bravo-Rufe gibt und der Applaus euphorischer wird als man es für möglich halten würde in diesem stickigen Raum, die Strahlerhitze prallt von oben, die Sommerhitze von außen. „Recherche“ heißen Nora Gomringers 16 Seiten, denen die Erfahrung der Autorin – preisgekrönt, Mitglied im PEN, Künstlerhausleitung, Poetikdozenturen –, und deren Medienaffinität anzumerken sind. 16 Seiten, auf denen Nora Gomringer ein Rollenspiel aufführt und sich als die über Kärnten hinaus hinlänglich bekannte Schriftstellerin Nora Bossong ausgibt, die in einem Treppenhaus für ihren neuen Roman recherchiert.
Überhaupt wird in diesem zweiten, vorgetragenen Werk alles zum Spiel, „Literatur in der Literatur in der Literatur“, heißt es in der Jury, mitsamt Bezügen zur Branche und zum Bachmann-Preis selbst. Das ist Dada, das ist kunstvoll und humorvoll, das ist Nachdenken über die Tätigkeit, die die Touristen dieser Stadt momentan dauerbeschäftigt: „Man stochert also nach“, steht in Gomringers Story. „Schreiben ist dann wie das Ablösen des Teigs vom Stäbchen, mit dem man gebohrt hat. Vieles am Schreiben ist widerlich.“
Dabei ist die Story doch einfach – und einfach traurig: Ein Junge, dreizehnjährig, stürzt sich vom Balkon. Rechercheschritt für Rechercheschritt wird jeder Nachbar zu dem Unfall – oder Vorfall? – befragt. Und jeder Nachbar trägt Mitschuld. Jeder weiß was. Jeder sagt was. Mancher nicht genug. Dazwischen Nora Bossong, die in Wahrheit Nora Gomringer ist, über das Leben und ihren Job sinnierend – und danach Klagenfurts Jury, die sich überschlägt: „Eine meisterlich gemachte Stimmenvielfalt.“ „Raffiniert abgründig.“ „Dass dieser Text keine Rettung braucht, ist klar.“
Winkels sagt: „Wir haben im Grunde gerade ein Hörspiel gehört“, worauf erst recht gute Laune aufkommt und wie beflügelt von so viel Experimentierwillen darüber diskutiert wird, seit wann diese Veranstaltung nochmal der Nabel der Welt ist. Kann es sein, dass man da gerade „einem total gewieften, medial inszenierten Text auf den Leim“ gegangen ist?, fragt Klaus Kastberger. Österreicher. Professor. Leiter des Literaturhauses Graz.
Funktioniert der einsam auch?
„Den Text gibt’s überhaupt nur, weil es uns gibt!“ Und Meike Feßmann, Kritikerin aus Berlin, sagt – klar, das sei längst ein „kategoriales Problem zwischen Performance und stiller Lektüre“: Der Text war für den Vortrag gemacht. Für die Stimme designt, gewissermaßen. Aber fürs Lesen, zu Hause? Funktioniert der einsam auch? „Raumschiff Klagenfurt“, lässt Winkels noch fallen – und Kastberger freut sich: Eh unnötige Nörgelei, „man beschäftigt sich sowieso am liebsten mit sich selbst.“
So viel Abkehr vom Schlichten tröstet dann über die Stunden hinweg, in denen die eine der nächsten beiden Leistungen als mittelprächtig abgetan und die andere schier hingerichtet wird. Saskia Hennig von Lange tendiert, so Winkels, mit einer unaufhörlich um sich kreisenden Figur, die einen Lastwagen fährt – „ich fahre“, „ich will weg“, „ich bin müde“, „mir ist kalt“ – zur „Blutleere und zur Langeweile“. Während der erste Mann, der liest, Sven Recker, seine Figuren – Ärztin und Patienten – scheinbar direkt „aus einem Klischeekaufhaus“ hat. Das jedenfalls meint Stefan Gmünder, Literaturredakteur beim „Standard“, und die anderen meinen auch viel: „Trash“. „Schreibweise der Neunziger“. „Fast journalistisch, es wird nur Vorgefundenes reproduziert“. Ohje.
Einigkeit dann wieder bei der Letzten für heute, der jungen Grazerin Valerie Fritsch. Großes Kino. Große Gefühle! Gefühle, mit Eiseskälte geschildert. Aus der Sicht eines Sohnes nämlich, der seinen Vater beobachtet – auf dem Stuhl, vor dem Fernseher, am liebsten aber im Schlaf. Dann nämlich vergisst der Vater jenen Schmerz, den er nicht überwinden kann: Dass er ein Bein verloren hat.
“Ich spüre dieses Leid“, sagt da einer aus der Jury. „Beeindruckend“, sagen zwei. Nur Hubert Winkels spürt was anderes: Dieser Vater – musste der früher auch noch Tänzer gewesen sein? „Zu dick aufgetragen“, schließt Winkels. Und damit „ein guter Text. Aber das ist es dann auch.“
Genau: Aus, fertig. Next. Morgen kommt schließlich Ronja von Rönne dran. Und auf die warten ja alle.
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