BRUCHSTÜCKE: Willkommen in der Geschmackspostmoderne!
Eine ethnologische Forschungsreise in die Berliner Peripherie. Zu Besuch bei Jürgen, dem Sammler
Wacklige Kommoden, Manschettenknöpfe, Schulzeugnisse, FDJ-Ausweise, ein alter Kompass, DDR-Gesetzesblätter aus dem Jahr 1975 und eine Postkarte aus Bagdad, als die Stadt noch aussah wie die orientalische Antwort auf Ost-Berlin: Meine Reise führt heute zu Jürgen, dem Sammler. Dinge, die bei den vielen Abbrucharbeiten in der Stadt liegen bleiben, die keiner mehr braucht - um die kümmert sich Jürgen. In seinem Haus hat er dafür einen Raum freigeräumt. Wie in einem kleinen Devotionalienmuseum stehen sie da hübsch aufgereiht, die vergessenen Habseligkeiten all derer, die ihr Glück nun woanders suchen. In seinem Garten stapeln sich Möbelstücke, Abzugshauben und Töpfe made in GDR. Jürgen sitzt mir gegenüber, zum bunten T-Shirt mit Peace-Zeichen trägt er eine Flatcap. Er probierte es nach der Wende als Elektriker. Aber schwarz. War eine Goldgrube, meint er. Dann nahmen die professionellen Firmen überhand und Jürgen musste sich ein neues Betätigungsfeld suchen. Brach Häuser ab und verkaufte die Steine. 10.000 Einwohner hat die Stadt jetzt weniger. Häuser bleiben unbewohnt, aber leer stehen sie nicht sofort. Wer nimmt schon seinen Hausrat mit, wenn er in Essen ein neues Leben anfangen will? Also sortiert Jürgen die Ausstattung ganzer Generationen. Verkauft die Antiquitäten.
Auch Jürgens Wohnungseinrichtung erzählt von Umbrüchen. Da steht die wuchtige Couchgarnitur. Da ist der altmodisch gekachelte Wohnzimmertisch, über dem eine schwere Lampe mit dunklen Glasschirmen hängt. Dahinter bauschen sich weiße Rüschengardinen vor den Fenstern, flankiert von schweren, düsteren Vorhängen. In der linken Ecke ein großer Fernseher, daneben nimmt ein Wohnzimmerschrank, schwarz und schwerfällig, die gesamte Stirnseite des Raumes in Beschlag. Obendrauf thront ein Farnkraut. An den Wänden: DDR-Schallplatten, haufenweise alte Fotos, meditierende Buddhas, Zwerge und Porzellankitsch; ein FDJ-Fähnchen neben einem Traumfänger und dem Bild einer indischen Gottheit. Mir schräg gegenüber: ein riesiges Ölgemälde, grellgelbe Fläche mit blauen Farbzeichen. Dazu eine in Türkis gestrichene Stuckdecke. Hier will nichts zusammenpassen.
Derjenige, der diese Einrichtung bestimmt, liebt Yogalifestyle und die Puhdys gleichermaßen. Willkommen in der Geschmackspostmoderne. Für Jürgen, in dessen Wohnzimmer ich sitze, hatte der Sozialismus Gut und Böse definiert, aber dann wurde er hinweggespült, als Jürgen Anfang zwanzig war. Von da an wurde Jürgen - und wurden die Menschen hier überhaupt - nur noch mit Unwägbarkeiten konfrontiert.
Jürgen hat uns Tee gemacht. Seine Tasse trägt die Aufschrift "DDR forever", und meine "Held der Arbeit". "So was hat es bei uns gegeben", kommentiert er die Tasse stolz und zeigt mir ein paar Postkarten von früher: der VEB Getränkekombinat auf Reisen. "Da sitzt der Chef mit der Belegschaft zusammen und trinkt Bier. So war das bei uns. Da gab es keine Unterschiede zwischen dem Direktor und den Arbeitern." Die Schwarzweißfotos zeigen lachende Männer in Klappstühlen vor ihren Zelten im Sand von Hiddensee. Dabei ist Jürgen gar nicht so alt wie einer, der Nostalgie nötig hätte - er ist doch erst 40. Jetzt will er Granada und La Gomera bereisen; da gibt es Hippies, die in Höhlen wohnen. Aber reisen ist nicht einfach, wenn man Eigentum hat und Angestellte. Jürgen wettert oft gegen seinen einzigen Angestellten, einen Handwerker. Vor kurzem gab es Streit, mit Rechtsanwalt und Arbeitsgericht. "Der Schmarotzer", sagt er, "will mich bloß ausnehmen. Pocht auf sein Streikrecht, obwohl bei mir nichts zu holen ist!"
Und dann sehe ich das Hitler-Porträt. Es steht auf dem großen, dunklen Wohnzimmerschrank. Schräg hinter dem Topf mit krausem Farnkraut. Adolf Hitler, schwarzweiß im düster dreinblickenden Halbprofil auf dem Wohnzimmerschrank.
Jürgen ist gerade in der Küche und macht noch einen Tee. Ayurvedische Kräutermischung. Dann sitzen wir uns wieder gegenüber. Jürgen erzählt von seiner gescheiterten Ehe. Nach der Wende glaubten plötzlich alle an die große Traumerfüllung. Seine Frau auch. Sie ist mit seinem Sohn rüber, wohnt heute in der Nähe von Stuttgart. Er blieb. Wollte es hier schaffen, wollte es ihnen beweisen. Kontakt zu seinem Sohn hat er heute kaum, der ist jetzt so alt, wie er es war, im Herbst 89. Jürgen glaubt seitdem ans Schicksal. Lernte Sabine kennen, von ihr hat er auch die Yogabücher und etwas über Seelenheilkunde gelernt. Manchmal fahren sie zu Esoterikmessen.
Ethnologische Forschungsreisen Man sammelt Notizen und Protokolle, die am Ende ein Bild ergeben, das dem Urlaubsfoto gleicht. Doch die Orte sind keine touristischen Anziehungspunkte, sondern eher ihr Gegenteil: Eine schrumpfende Stadt, die von leeren Häusern und Arbeitslosigkeit zeugt, wird selten vergnügliches Ziel einer Lustreise. Die Soziologin Inga Haese stieß auf ihrer Reise auf einen Ort im Umbruch mit Deindustrialisierung, Entleerung, Fragmentierung und Perspektivlosigkeit. Heraus kam eine Reportage von Jürgen und dem schlummernden Neofaschismus.
"Social Capital im Umbruch europäischer Gesellschaften" erforscht seit 2007 das (Über-)Leben in einer Stadt am äußeren Rand Brandenburgs. Wittenberge - eine Stadt mit knapp 20.000 Einwohnern auf halber Bahnstrecke zwischen Hamburg und Berlin gelegen. Die EthnologInnen und SoziologInnen lebten für acht Monate in diesem Biotop, führten Interviews und beobachteten das heutige Stadtleben. Im Berliner Maxim Gorki Theater sind die Ergebnisse ihrer Recherchen auch auf der Bühne zu sehen. www.ueberlebenimumbruch.de
Sabine ist jung, und mit ihr ist er auch jung geblieben - so kann man das Geschmackschaos auch deuten. Mich überfällt der Gedanke, dass es in dieser Stadt tatsächlich zur Normalität gehören könnte, ein Hitlerbild irgendwo hängen zu haben. Einfach des Tabubruchs wegen. Ein Hinwegsetzen über die Tabus der Demokratie, die für alle hier genauso wenig taugen, wie die Tabus der DDR etwas getaugt haben. Oder wie das Ankommen im Hier und Jetzt für niemanden etwas zu taugen scheint. Die meisten schimpfen, und die allermeisten reden von der guten alten Zeit, als sie noch alle Arbeit hatten und ihr Betrieb das Leben bestimmte. Da kann auch einer, der esoterische Ratgeber liest, die DDR verehrt, aber wertkonservativ ist, ein Hitlerbild auf dem Wohnzimmerschrank stehen haben. Das Bild und sein Platz, ja, das ganze Wohnzimmer auf seine verschrobene Einrichtungsart verkörpern die mühsame Identitätssuche der Zurückbleibenden.
Dann sagt Jürgen, dass der Westen damals gezielt die Fabrik ruiniert habe. Um Konkurrenz auszuschalten. Ich lache. "Schöne Verschwörungstheorie", sage ich. Jürgen lacht nicht. "Soll ich dir von einer echten Verschwörung erzählen? Die Protokolle der Weisen von Zion, das ist eine echte Verschwörung." Da ist sie also doch, die klare Ideologie. Sie wirkt stumm in den Alltag hinein, Bruchstücke einer zusammengeklaubten Weltanschauung, noch versteckt hinter einem Farnkraut.
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