: BORDELL BERLIN
■ Eine Revue zum 100. Geburtstag von Walter Serner
Wie ist die Befindlichkeit, die literarische?
O danke! O Schauder! Schauer der Haft, in der ich nicht bin. Wie angenehm, wie überaus angenehm!
Mag mancher auch den Serner gerner, weil weitweg & langeher, ungefragt & klopflos tritt die Wirklichkeit ein als Revuenummer. (Ist sie denn mehr?) Revue: falsch die Assoziationen, großzügig ausgelegt der Begriff. Nicht: Milva singt Bichette, Ute Lemper tanzt letzte Lockerung oder: Harald & Eddy spielen einen Sketch aus dem Hotel Ritz, sondern: klare Lesebrühe mit Einlage, sprich: Talk. Master Salamander Zelsky führt zwei real existierende Kriminalfälle vor, ohne Nasenringe & eherne Kugeln im Schlepp, doch exotisch genug fürs Wechselbad mit den Mimen. Locker, flüssig, rücken sie - medienerfahrene Renommierganoven mittlerweile - die Atmosphäre zurecht, gierig begackert vom Bildungsbürger, als personifizierte Regenbogenstorys im Wartezimmer zur heimlichen Penicillinspritze. Exbordellchef Dieter Harbecke droht seinem Vater sonstwas an. Er hat ihm verboten, jemals wieder Berliner Boden zu betreten, denn hier „reicht die Luft nur für einen von uns, und das bin ich“. Leise, zum Lauschen zwingend, spult Selbstinszenierung spielerisch ab, zynisch Werte knackend, von drüben, von der „Unterwelt“, die in Wirklichkeit gleich nebenan sich befindet bzw. im eigenen Kopf. Näheres Hinhören deckt semi -professionelle StandardSchocker auf, über Mord, Politiker im Puff & illegales Geld, wörtlich vorgetragen wie jüngst in der TV-Debatte.
Freigänger Michael Gähner lächelt müd über seinen Bruder, den Kripomann, der „sich für bedeutend hält“ in einer Familie mit zwei schwarzen Schafen, zum Aussuchen, je nach Standpunkt. Gesetz oder NichtGesetz: Entscheidung individueller Ethik, nicht nur auf dem Papier. Einsatz: die ganze Person. Ja, „Dichtung ist und bleibt ein, wenn auch höherer, Schwindel. (...) Menschen gestalten, heißt: sie fälschen.“ Die Schwindler selbst bestätigen Serner, der sich selbst bestätigte, da er das Dichten ablegte wie eine schlechte Gewohnheit. Die Schwindler sitzen in der Parallelwelt, der rechten Bühnenhälfte, lesen von, für & über den radikalen Intellektuellen, der dieses Jahr hundert wär. Tatsächlich dauert's, bis Konzentration die Texte (die man kennt oder kennen sollte) ihrer kriminalen Koketterie entledigt und die Bewußtseinsebenen wieder sortiert sind. Aalglatt das Rezitatorenteam der Staatlichen Bühnen, affektiert bisweilen (So haben wir sprechen gelernt!), packt einzig Jürgen Thormann, erweist sich seines Bonusses der unverwechselbaren („Yes Minister„-)Stimme als würdig und verhilft dem Schwindler wieder zur brüchig-perversen Glaubwürdigkeit.
Überwiegend gelangweilt hören die beiden Talkgäste hin oder weg, souverän jedenfalls. Sie können sich's leisten, haben wohl was verdient an diesem „Pulp„-inspirierten Abend. Vielleicht auch überlegt Friedrich Luft, ob er sich für die Verleihung des „Walter-Serner-Preises“ an Harbecke oder Gähner stark machen soll. Gewiß aber heißt das Idol dessen, der da im Foyer lungert, brummelt „Ganz schön schwierig, die Texte“, nicht Walter Serner.
Norbert Tefelski
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