BILDERSTURM IM WASSERGLAS

■ „Julias Motive“ (Freshwater) von Virginia Woolf erstaufgeführt

Man stelle sich einmal vor, das Ensemble des „Theater zum westlichen Stadthirschen“ wendete sich künstlerisch tatsächlich einem realexistierenden Problem zu, beispielsweise, indem es versucht, das Ensemble der Freien Volksbühne darzustellen, sagen wir: „Ein Gespräch im Haus Fels über die abwesende Frau von Trissenar“. Da wäre, in der Rolle der Abwesenden, selbst Elisabeth Zündel noch total unterfordert und alleine die Tatsache, diese beiden unvermeidlichen einmal nicht anwesend genießen zu dürfen, verspräche schon einen halbwegs vergnüglichen Abend, mal ganz abgesehen von dem bombigen Domestik Bender in der Rolle des Herrn Fels... Zumindest in den Räumen des „Theater zum westlichen Stadthirschen“ hat sich ein neues Ensemble mit dem Namen „szenario feminal“ einem realexistierendhabenden Personenkreis zugewendet, nämlich der Freundschafts- und Verwandschafts-Clique um Virginia Woolf, ebenfalls eine kleine Gesellschaft mit haftender Beschränkung, skizziert in dem Stück „Freshwater“, das die Dichterin selbst verfaßt hat. Auch da tummelt sich eine anämische Horde zwangsinspirierter Geniesimulanten, die, eingeschnürt im Stangenkorsett viktorianischer Kunstfrömmelei, die überdauernde Pose fürs Große und Ganze suchen; zwei Über -Liebende entfliehen schließlich dorthin, wo Luft und Lust auf der Speisekarte stehen: London, West-Central, wahrscheinlich fünfter Stock Mansarde. Mit ihrem Debüt-Stück wollte die Gruppe „szenario feminal“ einen „Ausschnitt weiblicher Kulturgeschichte wiederentdecken und vergnüglich der Öffentlichkeit präsentieren“. Zu lachen aber gab's bei der Premiere nichts, was die zwingende Frage aufwirft: wie kommt es bloß, daß die bloße Vorstellung von einer Vorstellung so ungleich lustiger sein kann als die vorgestellte Aufführung, und das, wo es doch beidemal quasi um das gleiche Thema geht? Die Antwort ist ganz einfach und hätte von den beiden Regisseusen Andrea Hohnen und Gudrun Buchholz auch schon im Vorfeld der Inszenierung gefunden werden können: beidemale haben wir es mit einer Parodie zu tun, wobei im ersten Falle eine gnadenlose Wirklichkeit uns die Kenntnis der realen Personen nicht erspart hat, wofür wir jedoch mit Lachen entschädigt werden können, im zweiten Falle jedoch der Kreis der authentischen Personen von einer unbarmherzigen Geschichte einfach vergessen wurde und somit ihr Wiedererscheinen für uns Nachgeborene nurmehr zur Verbreitung abendfüllender Langeweile taugt.

Im Jahre 1935 erfuhr „Freshwater“ seine erste und bisher einzige Aufführung im engsten Freundeskreis von Virginia Woolf: damals mögen sich Herr Watts, Herr Tennyson und Frau Cameron auf die Schenkel geschlagen haben, als sie sich in den Figuren George Watts, Alfred Tennyson und Julia Cameron unschwer wiedererkannten, dargestellt als Untäter der streng real-idealistisch abbildenden Kunst, die alle drei noch einmal von der klassischen Muse vergewaltigt werden, bevor diese abdankt.

Heute ist es allenfalls der vor-sich-hin-latinisierende Charles, beziehungsweise dessen Darsteller Heinrich Rolfing, dem mit seinem unfreiwillig breiten westfälischen Akzent eine genau unfreiwillige Parodie gelingt, auf eine Theater -Inszenierung, die ansonsten völlig antiseptisch und ganz Hochdeutsch daherkommen möchte.

Mit einer beinahe akademischen Vorliebe für die geschlossene Form haben Regie und Bühnenbild (Isolde Wittke) Tableaus entworfen, deren Schönheit sich in Selbstgefälligkeit restlos erschöpft und verschließt: ein Atelier in purpurtrunkenem Faltenschlag schwerer Samtvorhänge, kunstlos-kunstgewerbliche Staffelei-Drapage und duftig buschige Floral-Arrangements, kurz: Alles sieht aus, als habe Konrad Kujau eine Spitzweg-Idylle im Stile Boticellis kopiert; hier verschwimmen armselige Poesie und reiche Bourgeoisie ineinander und nur die Schauspieler paddeln irgendwie ratlos in diesem neunmalschönen Bild herum.

Auch die Kulisse der einsamen, wellenumspielten Insel der beiden flüchtig(en) Liebenden ist eine ästhetische Selbstbehauptung: eine saubere Laubsägearbeit in grün und blau, in deren Mitte sich die beiden Akteure mit einem dem Material entsprechenden Spiel glücklos zu retten versuchen. Womit wir fast wieder bei der Freien Volksbühne wären. Und das wiederum gibt Anlaß zur Hoffnung: denn wenn „szenario feminal“ so weitermacht, wie es begonnen hat, so einfalls und dekorverliebt, so hohl und staatssauber schauspielend, dann werden wir, die Zuschauer, eines Tages doch noch mit Vergnügen entschädigt werden können, siehe oben...

Rainer Maria Bilka