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BIBLIOTHEKSFORSCHUNG

■ In den Karteikästen des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

Ein verwaistes Büchlein, schwarz eingebunden, abgewetzt, erblickt das Licht: Bücherwünsche: „Der Herr der Ringe“ (Sommer '71); das „Tao Te King“, dann fordernde Sätze: „Wo steht denn hier der Lenin“, Unterschrift: Werner Hamacher. Schon früh wandte sich der Moderne ins Archaische, früh schon, gleichsam vorausahnend die herbe Kritik, die er sich als Verteidiger des ins Zwielicht geratenen Paul de Man 1988 einhandeln würde (Lothar Baier ('FR‘) und Frank Schirrmacher ('FAZ‘) droschen vereint auf ihn ein), auf der Flucht davor schon zum Nolte der Literaturwissenschaft zu werden. abgelehnt, 20.1.73; Mao Tse Tung, „Ausgewählte Schriften“ „Wird nicht bestellt.“

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Benutzerkarteien sind schön! Längst Verstorbene lächeln dich noch einmal mit ihrer Unterschrift an: Jakob Taubes ermahnt so weiter zum fleißigen Studieren. Werner Hamacher lehrt zwar seit '85 in Baltimore und Harald Juhnke ist seit Feburar '83 in der Kartei - die Unterschrift fehlt, Harald, komm mal vorbei!

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Es gibt eine Literaturliste als Appetizer für

unerschrockene Anfänger, die locker 2.000 Titel enthält der Fortgeschrittene wird einiges vermissen. Sei's drum, es ist das Material aus dem die Hits entstehen.

Im soliden vorderen Mittelfeld (top 100) bewegen sich die Klassiker: Hegel „Ästhetik„; Kant „Kritik der Urteilskraft“ (+); Kierkegaard (stets scheiternde Liebe unglücklicher Kommilitoninnen); Hamann, Schleiermacher, Nietzsche sowieso, allerdings abfallende Tendenz, „Sein und Zeit“, „Unterwegs zur Sprache“ - kleines minus, eine Handvoll Unentwegter bleibt am Ball, Iser, Jauß, Ricoeur „Die Interpretation„; Lukacs „Theorie des Romans„; Adorno, der geachtet („Ästhetische Theorie“), Walter Benjamin, der geliebt wird; Peter Szondis Gesamtwerk; Norbert Elias „Der Prozeß der Zivilisation„; Peter Weiß „Ästhetik des Widerstands“, Freuds - „Traumdeutung“, immer dabei; Julia Kristeva „Histories d'amour“, im Original, deshalb nicht weiter vorne, Bataille „Der heilige Eros„; Deleuze „Foucault„; Baudrillard, „Oblier Foucault„; Foucaults „Sexualität und Wahrheit“.

Jaques Lacan wird immer gerne geklaut; Platz 99, der Liebling Einzelner: Daniel Paul Schreiber „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken„; steigende Tendenz: Bernhard „der Boß“ Lämmert: „Romantherorie in Deutschland II„; die gute Einführung: Wellberry (Hg.) „Positionen der Literaturwissenschaft - Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“.

Top Ten: Kittler „Grammophon, Film, Typewriter„; Derrida „Grammatologie“, „Postkarte„; Baudrillard „Der symbolische Tausch und der Tod„; weiter vorne: „Derrida and after„; Shooting Star: Winfried Menninghaus „Schwellenkunde„; Jonathan Culler „On Deconstruction„; Paul de Man „Allegorien des Lesens“ und unbestritten die Nummer eins, furioses Comeback, mach zwei Wochen schon geklaut: Derrida: „Paul de Man's War“. (in: „Criticul Inquiry“, Spring 88).

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Natürlich auch und immer noch belletristische Lieblinge: Rainald „neben Goethe“ Goetz „Irre“, Labsal der Opponierenden wie Thomas Bernhard „Ja„; immer noch Thomas Mann; immer noch Joyce; gleichbleibend F.M. Dostojewski; gut dabei: der Nouveau Roman, Robes-Grillet, Butor, Nathalie Sarraute, Margerite Duras...; Hölderlin, Kleist (immer alles); Musil „Der Mann ohne Eigenschaften„; Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (letzteres leicht abfallend; vorne & modern: Pynchon, „V„; ganz vorn, auf ewig: Kafka, Alles.

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Schöne Titel für den umherschweifenden Buchrückengucker: Norman O. Brown „Love's Body - Wider die Trennung von Geist und Körper, Wort und Tat, Rede und Schweigen„; Gombrich, „Meditations on a Hobby Horse„; Reik „Der überraschte Psychologe„; Jan Kott „Gott essen„; Bloom „The Anxiety of Influence„; Stanley E. Fish „Surprised by Sin„; „Sex & Sensibility„; „Saturn & Melancholy“, „Bewegung & Stillstand„; Gerd Müllers „Dichtung & Wissenschaft“ und „Auch ich in Arkadien“.

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Nachwuchsjournalisten zieh'n sich Hunter S. Thompson „Fear & Loathing in Las Vegas“, ohne Dope schätzungsweise, oder Capote oder Tom Wolfe „The electric Kool - Aid Acid Test“ rein.

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Aber keiner liest Mattenklott „Entwurf eines Kurses für kreatives Schreiben für die Sekundarstufe II“.

Detlef Kuhlbrodt

Bibliothek im Institut für AVL, mit 400% Überlast zwar in der Unispitze, trotzdem gemütlich. 1/33, Hüttenweg 9, Mo-Fr 1-17h.

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