BESOFFEN IM U-BAHNHOF : Opa hat Krebs
Sieben Minuten. Das ist eine lange Zeit an einem Samstagmorgen um halb fünf, wenn man am Rosa-Luxemburg-Platz auf die U2 wartet und nicht ganz nüchtern ist. Die nächste Sitzgelegenheit sind fünf Drahtstühle. Auf dem ersten, dritten und fünften sitzt je ein betrunkener Junge und spielt mit seinem Handy.
Ich setze mich auf den vierten und überlege, ob ich auch mein Telefon rausholen soll. Ist ja albern, denke ich, und lasse es bleiben. Ich hab nicht mal Internet. „Alles klar bei dir?“, fragt der Junge auf Platz fünf zu meiner Rechten. Scheiße, denke ich, wirke ich so besoffen? „Alles klar“, sage ich. „Jut“, sagt er, „ick bin so besoffen, ick weeß ja nich mehr, wo oben und unten is.“ – „Da kann ick dir helfen“, sage ich und zeige erst zur Decke, dann auf den Boden, „da is oben, da is unten.“ – „Danke“, sagt er und nickt.
Nach einer Pause fragt er: „Bis wohin fährst’n du?“ – „Pankow, Endstation“, sage ich. Nummer fünf nickt. „Könntest du mich vielleicht Schönhauser rausschmeißen, damit ick die Station nich verpasse?“ – „Klar“, sage ich, „ick pass uff dich uff.“ Er sieht mir in die Augen. Er hat unglaublich dichte lange Wimpern, denke ich. „Ey, ick bin voll durch ’n Wind“, sagt er. „Meine Oma hat heute angerufen, dass Opa Krebs hat. Der is 78.“ – „Ach Scheiße“, sage ich, „das tut mir leid“. – „Ick bin 26“, erzählt der Junge weiter, „und ick hab meinen Opa seit zehn Jahren nich jesehn.“ Die Bahn kommt. Wir steigen ein und hängen uns in die Halteschlaufen. „Geh ihn besuchen“, sage ich, „das hilft.“ – „Oma will nich, dass wir alle kommen“, sagt er. „Frag ihn doch, was er will“, sage ich. „Meinste?“, fragt er. „Auf jeden Fall“, sage ich. „Ick gloob, nächste muss ick raus“, sagt er. „Nee, übernächste“, sage ich. – „Ach so.“ Wir erzählen noch ein bisschen. Als ich ihn Schönhauser aus dem Zug schicke, umarmt er mich kurz zum Abschied. Er hat vorher um Erlaubnis gefragt. Als die Bahn fährt, bleibt er verloren zurück. LEA STREISAND