BERNHARD PÖTTER über KINDER : Säckchen für Säckchen und Tür für Tür
Jeden Tag ist Weihnachten – und deshalb ist mittlerweile nichts so subversiv wie der Adventskalender
Der ganze Körper vibriert vor Aufregung. 89 Zentimeter Anspannung, 12,3 Kilogramm Erwartung. Die Augen riesengroß. Die Hände öffnen und schließen sich zwanghaft. Der Mund macht trockene Kaubewegungen. Tina steht vor dem Adventskalender.
„Iiiiiiiiiiiich!“, ruft meine Tochter und reckt die Arme. Auf dem Küchentisch steht aber heute Jonas und schneidet das Säckchen für den Tag von der Schnur, die quer durch die Küche hängt. Wir haben nicht einen, nicht zwei, nicht drei, sondern vier Adventskalender. Manche sind so voll mit Schokolade, dass mir schon beim Zusehen die Zähne weh tun. In anderen sind weise Geschichten wie die vom salomonischen Urteil Salomos: Zwei Frauen streiten sich um ein Baby, und statt eines simplen DNA-Tests schlägt er vor, das Baby in der Mitte durchzuschneiden. Und eine solche Geschichte soll es zum Frühstück geben? Da muss ich wieder drei Tage lang Fragen beantworten. Schokolade ist wohl doch besser als diese Art von Weisheit.
„Was macht ihr denn mit den ganzen Adventskalendern?“, sagt unsere Freundin Julia. „Die Kinder kriegen doch eh zuviel Süßes in der Weihnachtszeit. Und außerdem sind die doch sowas von kitschig.“ Ganz richtig. Und ganz falsch. Denn nichts ist heutzutage so subversiv wie ein Adventskalender.
Schließlich sind die Kalender die letzten Rufer in der Wüste vor Weihnachten. Hier bereiten wie uns Schritt für Schritt, Säckchen für Säckchen und Türchen für Türchen auf Weihnachten vor. Und das ist für eine Zweijährige verdammt hart: Zu wissen, dass da alles voller Schokolade ist. Und gleichzeitig zu wissen, dass man mit der großen Tür noch drei Wochen warten muss. Drei Wochen! Das ist, als müssten wir jetzt an unseren Renteneintritt mit 87 denken.
Adventskalender bringen selbst Windelkindern den wichtigsten Aspekt des zivilisatorischen Fortschritts nahe: „You can’t always get what you want.“
Wie ich an meiner Tochter sehe, fordert auch der zivilisatorische Fortschritt zuweilen seine Opfer. Sie sind dann wie von Sinnen und wälzen sich schreiend auf dem Teppich. Aber das geht vorbei. Spätestens am 24.Dezember.
Advent heißt Ankunft. Erwartung. Vorfreude. Heutzutage allerdings beginnt der Advent, wenn die Freibäder schließen. Aus der Vorfreude ist die Nachfrage geworden. Alle Wochenenden sind verkaufsoffen. Jeden Tag ist Weihnachten. Vielleicht mit Ausnahme der Feiertage. „Ich will alles, und zwar sofort“, ist die Maxime von Mars bis MediaMarkt. Ist es ein Zufall, dass Spekulant und Spekulatius so ähnlich klingen?
Der Adventskalender ist in diesem Getümmel ein Fossil aus dem Mittelalter. In meinen Adventskalendern als Kind lagen neben den Bonbons auch immer Aufgaben, die mich zu einem besseren Menschen oder zumindest zu einem verlässlichen Müllrunterträger und Schuheputzer machen sollten. Das ging mit furchtbar auf die Nerven. Aber noch schlimmer als dieser Weihnachtsfron war das Warten. Inzwischen haben wir eine Geschirrspülmaschine und Rauhlederschuhe. Aber das Warten ist auch meinen Kindern geblieben. Immer nur ein bisschen bekommen. Und dann wieder warten bis morgen. Aahh, das tut weh.
Um den Schmerz meiner Kinder mitzufühlen, habe ich mich in diesem Jahr auf ein anderes schmerzvolles Vorweihnachts-Ritual besonnen. Das Fasten. Nicht wirklich so, dass mir zu Neujahr meine alten Jeans wieder passen. Ich verweigere nur die Plätzchen und Stollen und Acrylamid-Bio-Sterbkuchen. Fastenessen soll nicht schmecken. Es soll nicht nahrhaft sein. Es soll nicht wirklich Essen sein. Nur fast. Fast Food eben.
Zu Weihnachten bin ich ein gläubiger Mensch. Ich glaube an die Allgegenwart des Konsums und an die Allmacht des Kapitalismus. Deshalb bin ich mir sicher, dass die Burgerwehr auch das Fasten, diese letzte Bastion aus Grießgrambrei, bald schleifen wird. Und uns am 24.Dezember den McChristmas präsentieren wird. Mit 100 Prozent Rindfleisch, mit Zimt und mit dem Slogan „Da fällt das Fasten leicht“.
Was auf jeden Fall stimmt.
Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu McChristmas? kolumne@taz.de Dienstag: Jenni Zylka über PEST & CHOLERA