piwik no script img

Archiv-Artikel

BERNHARD GESSLER STETHOSKOP Warum frustriert mich das so?

HEUTE HEISST DAS ALTERSHEIM SENIORENRESIDENZ. DAS ABER ÄNDERT NICHTS DARAN, DASS DEN HAUSARZT DIE KALTE ANGST ANSPRINGT, WENN ER DORT DEMENTE PATIENTEN BESUCHT

Montagnachmittag stehen bei mir die Hausbesuche an. Dazu gehören für einen Hausarzt natürlich auch Besuche in Einrichtungen, die früher Alters- oder Pflegeheim genannt wurden, sich heute jedoch als Seniorenstift, -residenz oder -domizil bezeichnen.

Ich erinnere mich gut an meinen ersten Hausbesuch dort. Frischen Mutes betrat ich die erste Station – Pardon: den Wohnbereich – und landete im Speiseraum, wo die Bewohner zum Kaffee versammelt worden waren. Ich war entsetzt, so niederschmetternd war der Anblick. Vermutlich weil ich in grauer Vorzeit Schüler eines Franziskaner-Gymnasiums war, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Hier würde ein Franziskus des 21. Jahrhunderts anfangen zu arbeiten, zu pflegen.

Warum dieser Schreck? In neun Jahren als Stationsarzt an Inneren Kliniken hatte ich erfolgreich verdrängt, wie die Realität eines Altenheimes aussieht, wie der Zustand von so vielen Menschen dort ist. Ich meine jetzt kein spezielles Altersheim, keine schlechte Pflege, auch nicht Vernachlässigung oder gar Misshandlung von alten Menschen in diesen Einrichtungen. Das existiert leider alles, ist aber die Ausnahme.

Was mich – wie jeden anderen, der einen Fuß in eine solche Einrichtung setzt – emotional so fordert und herausfordert, ist der Umgang mit dementen PatientInnen. Warum frustriert mich das so? Und wieso bin ich nach dem Besuch von sieben PatientInnen im Altersheim, von denen fünf dement sind, so müde, als hätte ich vierzehn Wohnungs-Hausbesuche hinter mir?

Wahrscheinlich spielt Angst eine Rolle. Die Angst, mit den dementen Menschen dort nicht kommunizieren zu können, nicht herausfinden zu können, welche Beschwerden sie haben. Die Angst, mit ihnen keine therapeutische Beziehung aufbauen zu können. Oder ist es die Angst davor, selbst einmal so zu werden? Oder das ständige Infragestellen der Sinnhaftigkeit meines Tuns?

Eine erfahrene Kollegin kurz vor dem Ruhestand meint, diese aversiven Gefühle würden im Laufe des Berufslebens nicht besser, eher noch stärker werden. Ich weiß immer noch nicht, was genau diese negativen Gefühle und Gedanken letztlich verursacht. Aber eine Erfahrung habe ich schon gemacht: Reden hilft. Reden mit den dementen PatientInnen, das ist das Schwierigste. Reden mit den AltenpflegerInnen, sie verdienen unseren größten Respekt. Reden in Supervisionsgruppen und Selbstreflexionsgruppen für das therapeutische Team, sogenannten Balintgruppen. Doch darüber ein anderes Mal.

■ Der Autor ist Internist in Rastatt Foto: privat