BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN: Die Freiheit, die ich meine
Seit Jahren reise ich mit Pass oder Personalausweis durch die Welt. Viel spannender ist es aber ohne
Oh man, was hätte ich früher darum gegeben, als blinder Passagier zu reisen. Im Kofferraum eines Diplomatenautos von Ost- nach Westberlin. Oder versteckt in einem Laster von Ungarn nach Österreich. Leider hat sich niemand gefunden, der mich mitgenommen hat. Alles muss man selber machen!
Mit meinem ersten bundesrepublikanischen Pass war es natürlich ein Leichtes, die Welt zu bereisen: Mexiko, Argentinien, Bolivien, Venezuela, USA, Guatemala, Costa Rica, Kuba. Weil für Europa der Personalausweis reicht, kann ich keine Stempel zählen und habe längst den Überblick verloren. Mein letzter Europaflug wird mir aber lange in Erinnerung bleiben. Beim Hinflug lief alles wie immer: Ein kurzer Blick auf meinen Personalausweis beim Einchecken und schon genoss ich meine Reisefreiheit. Bis der Tag des Rückfluges kam.
Auf dem Weg zum Flughafen merkte ich, dass mein Personalausweis weg war. Mich durchfuhr ein Riesenschreck. Es musste eine simple Erklärung geben. Nur fiel mir keine ein. Ich verordnete mir ruhig Blut und stellte mich der Herausforderung, ohne Personaldokument zu reisen. Vorsichtshalber nenne ich weder die Fluggesellschaft noch meine Reiseroute. Ich möchte nicht, dass jemand als Fluchthelfer verdächtigt wird.
Wenige Meter vor dem Flugschalter fiel mir das Hotel in Bahnhofsnähe ein, wo ich am Tag meiner Ankunft genächtigt hatte und an der Rezeption meinen Ausweis abgeben musste. Ich blöde Kuh hatte am nächsten morgen nicht mehr daran gedacht. Ich erklärte der netten Dame am Flugschalter, dass ich eine blöde Kuh und mein Ausweis in dem Hotel in Bahnhofsnähe sei. „Kein Problem“, sagte sie und schickte mich zur Flughafenpolizei. Wenn ich eine Anzeige erstatte, dürfte es kein Problem sein, auch ohne Personalausweis zu fliegen.
In einem kleinen Büro hinter einer Glasscheibe tummelte sich etwa ein Dutzend uniformierter und bewaffneter Polizisten. Misstrauisch beäugten sie mich, als ich mich rudimentär in ihrer Sprache ausdrückte. Nix Dokument, Hotel Bahnhof, Typ Rezeption behalten Ausweis, ich fliegen Berlin. Jetzt. „Dann müssen Sie ins Hotel und den Ausweis holen“, bekam ich zur Antwort, anderthalb Stunden vor Abflug. Ich blies empört die Backen auf. Dame Fluggesellschaft sagen, nix Problem, Anzeige machen und fliegen mit andere Dokument. „Wenn die das sagt“, waren die letzten Worte, die ich durch die Glasscheibe vernahm.
Zurück am Flugschalter erzählte ich, warum ich keine Anzeige erstatten konnte. Ich kramte meinen Führerschein hervor, der einmal in der Waschmaschine gelandet war und den ein Foto ziert, das einer Terroristenbraut nicht unähnlich sieht. Trotzdem durfte ich einchecken! Die freundliche Dame riet mir mit leiser Stimme, das nächste Mal zu sagen, ich hätte den Ausweis verloren. Die erste Hürde war genommen. Blieb noch der Sicherheitscheck.
Ich stellte mich an das Ende einer langen Schlange, in der sich ein erschreckendes Bild bot: Alle Passagiere hielten ihre Bordkarte in der Hand, zusammen mit einem gut sichtbaren Ausweis. Je näher ich der Sicherheitsschleuse kam, umso mulmiger wurde mir. Ich fächerte mir mit dem Bordkartenschnipsel betont gelangweilt Luft zu und konzentrierte mich darauf, so zu tun, als hätte ich einen Ausweis in der Tasche, den ich jederzeit herausholen könnte. Das habe ich zum Glück im Osten bis zur Perfektion gelernt: So tun als ob.
Ich wurde nach Waffen abgetastet und durchleuchtet und musste meine Wanderschuhe ausziehen. Nach einem Ausweis wurde ich nicht gefragt. Nicht auszudenken, wenn ich hätte sagen müssen, tja, den habe ich verloren, und dann wieder bei den Polizisten gelandet wäre. Erleichtert ließ ich mich im Flieger auf einem Fensterplatz nieder.
Mein Personalausweis kam einige Zeit später mit der Post. Mein Reisebegleiter hatte ihn nach dem Bezahlen im Hotel aus Versehen eingesteckt. Ich bin ihm dankbar dafür. So konnte ich endlich die grenzenlose Freiheit genießen, von der ich immer geträumt habe.
Ihren Ausweis, bitte! kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen