: „Avantgarde ist überall“
Oooops!, she did it again: Jeanne-Marie Varain hat das Avantgarde-Festival im Dorf Schiphorst kuratiert. Dabei hätte doch 2019 Schluss sein sollen

Interview Jan Paersch
taz: Frau Varain, was ist das Avantgarde-Festival?
Jeanne-Marie Varain: Das Avantgarde-Festival ist eine Zusammenkunft von Menschen, die Lust auf das Experiment haben. Es findet mitten aufm Dorf statt und bringt dort Musik fernab des Mainstream auf die Bühne. Wir bezeichnen es gerne als Happening, weil neben der Musik noch andere Dinge passieren, die uns genauso wichtig sind: Zusammenkunft, Kulinarik, darstellende und performative Kunst.
taz: Wenn ich an Avantgarde denke, denke ich an „krachig und unbequem“. Richtiger Gedanke?
Varain: Ich glaube nicht. Es kann auch klein und fein sein. Avantgarde ist überall! Wenn wir über Experimentelles reden, ist das bei uns eher das soziale Miteinander. Hier gibt es gemeinsames Anpacken, alle begegnen einander auf Augenhöhe – das ist in unserer Gesellschaft nicht alltäglich. Und musikalisch? Wer in der Szene ist, hat ohnehin schon alles gehört. Für die Gäste, die hier aus der Gegend kommen, ist alles sehr ungewohnt, was ich auf die Bühne stelle. Wir haben den Willen, uns auf Dinge einzulassen, die es noch nie gab.
taz: Wie machen Sie auf sich aufmerksam?
Varain: Wir haben schon viele Formen der Werbung ausprobiert. Aber wir haben gemerkt: Wir sind zu szenig und nischig. Die Leute kommen fast nur über Mund-zu-Mund-Propaganda. Ich glaube auch nicht an große Namen. Die bringen nicht unbedingt mehr Leute.
taz: Und wie finanziert sich das Festival?
Varain: Klar war mir: Ich möchte KünstlerInnen vernünftig bezahlen. Wir haben Geld von der Initiative Musik Festivalförderung bekommen, darüber können wir alle Gagen finanzieren.
taz: 25 bis 35 Euro für ein Tagesticket – das sind Preise wie in den Nullerjahren!
Varain: Es müsste mehr sein, um alle fair bezahlen zu können, aber unsere Kalkulationen gehen auf. Die Leute haben ja nicht mehr Geld als früher. Teilhabe ist uns wichtig – jeder soll kommen können. Wir gehen höchstens plus/minus null raus. Der Aufwand ist der einer halben Stelle, und zum Ende hin der einer Vollzeit-Stelle. Alles im Ehrenamt. Das geht nur als Freiberuflerin und wenn man sich überarbeitet.
taz: Sie haben bis 2024 das große Moers-Festival am Niederrhein kaufmännisch geleitet. Was haben Sie da mitgenommen?
Varain: Ich habe viel über Kulturpolitik gelernt. Das hat viel mit Klinkenputzen zu tun. Die Förderlandschaft in Schleswig-Holstein ist eine Katastrophe. Ich werde hier keinen Antrag mehr stellen, ohne zuvor die dafür zuständige Person kennengelernt zu haben. Das ist sehr kräftezehrend. Wir sind auf halber Strecke zwischen Lübeck und Hamburg; ich habe Stiftungen in beiden Städten angeschrieben. Es gibt hier kein Geld, dabei ziehen so viele Hamburger*nnen aufs Land. Warum können wir nicht als Festival vor den Toren der Stadt Geld bekommen?
taz: Sie hatten 2019 doch das allerletzte Avantgarde-Festival gefeiert…
Varain: Wir waren sicher, dass es die letzte Ausgabe sein würde. Wir dachten: So schön bekommen wir es nicht noch einmal hin. Dann kam eine Pandemie, und damit Rückschläge für Kulturschaffende, und die hören auch nicht auf. Da spürt man auch Verantwortung. Gerade im ländlichen Raum, gerade in Schleswig-Holstein. Es braucht Orte, an denen man sein kann, wie man ist. Es braucht die Konfrontation mit den Menschen in der Umgebung.
taz: Ist es ein politisches Festival?
Varain: Ich bin keine Rednerin, ich bin zu 100 Prozent Macherin: Eine der größten politischen Aktionen ist die Erschaffung von Räumen. Jeder kann hier angstfrei so sein, wie er möchte. Das wird funktionieren, auch in einem Dorf, in dem über 20 Prozent AfD gewählt haben.
taz: Sie engagieren sich gegen rechts?
Avantgarde-Festival, 20.–22. 6., Steinhorster Weg 2, Schiphorst, Programm und Infos auf avantgardefestival.de
Varain: Wir haben fürs Bündnis „Verlage gegen rechts“ gespendet, nun haben die uns antifaschistische Poster geschickt, die auf dem Gelände als Ausstellung präsentiert werden. Wichtig ist uns auch der Schutz von trans* Menschen, denn nicht nur in den USA hat die Transphobie zugenommen. Die Kulturlandschaft muss auch Möglichkeiten schaffen auszureisen. Wir hatten eine US-amerikanische Künstlerin, die auch einen mexikanischen Pass besitzt. Sie hat unter Tränen absagen müssen, weil ihre Angst groß war, nicht wieder in die USA einreisen zu dürfen.
taz: Sind Ihre Mutter Carina und Ihr Vater Jean Hervé Peron, die das Festival vor 49 Jahren gegründet haben, weiterhin involviert?
Varain: Ja, mein Vater ist stolz, dieses Jahr Parkplatzwächter sein zu können. Ich glaube, sein Lieblingsberuf wäre Hausmeister gewesen, wäre er nicht aus Versehen Musiker geworden. Meine Mutter dagegen hilft der Catering Crew. Sie ist so etwas wie die Grande Dame der Festival-Care-Arbeit.
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