Autorität nur im Hauptquartier

UNO hat Kontrolle in Sierra Leone verloren. In der Hauptstadt Freetown beginnen britische Soldaten mit der Evakuierung von Ausländern. Wenn sie fertig sind, sollen sie im Land bleiben – aber voraussichtlich nicht als Teil der UN-Truppe

von DOMINIC JOHNSON

Britische Soldaten haben gestern begonnen, Ausländer aus Sierra Leones Hauptstadt Freetown zu evakuieren. Nachdem die ersten 180 Menschen aus dem internationalen Flughafen der Stadt nach Senegal ausgeflogen wurden, sammelten sich weitere Evakuierungskandidaten in einem zentralen Hotel der Hauptstadt, um mit Hubschraubern zum Flughafen gebracht zu werden. Dort waren am Montagabend zunächst 250 britische Elitesoldaten eingetroffen. Die britische Eingreiftruppe in Sierra Leone sollte gestern Abend ihre Sollstärke von 700 Mann erreichen. Weiter sind sechs Kriegsschiffe mit 600 Marineangehörigen unterwegs.

Das ist viel zu viel für eine Evakuierungsaktion, die nach amtlichen Schätzungen insgesamt etwa 850 Menschen betreffen wird. Was die Briten in Sierra Leone nach den Evakuierungen noch alles machen und wie lange sie bleiben, war gestern noch nicht geklärt. Ein Ersuchen der UNO an Großbritannien, die entsandten Soldaten der UN-Mission Unamsil als schnelle Eingreiftruppe zu Verfügung zu stellen, wurde zunächst aus London nicht offiziell beantwortet. Der Kommandeur der Eingreiftruppe, Vizeadmiral Sir Ian Garnett, sagte, die Soldaten seien dafür ausgerüstet, „mehrere Wochen zu bleiben“. Eine Ausweitung ihres Einsatzbefehls sei eine Sache für Politiker. Verteidigungsminister Geoff Hoon weigerte sich unterdessen, eine Garantie dafür abzugeben, dass die Briten in keine Kämpfe verwickelt werden.

Der britische Außenminister Robin Cook sagte dem BBC-Rundfunk: „Die Präsenz britischer Streitkräfte am Flughafen könnte die Rebellen davon abschrecken, auf Freetown vorzurücken, aber wir haben keine Intention, dass sie Kampftruppen in der UN-Truppe werden.“ Die britischen Soldaten am Flughafen von Freetown könnten jedoch bis zu zehn Tage bleiben, bis neue UN-Einheiten aus Jordanien und Indien eingetroffen seien. Die Unamsil will ihre Truppenstärke so rasch wie möglich von derzeit 8.700 auf die erlaubte Maximalgröße von 11.100 Mann aufstocken; unter anderem haben die USA angeboten, ein Kontingent aus Bangladesch zu verlegen. „Ich hoffe, dass es, wenn die UNO ihre volle Stärke erreicht, keinen Bedarf für die Präsenz von anderen Truppen gibt“, sagte Cook.

Zunächst ist die UNO aber äußerst bedürftig. Unter dem Eindruck des weitgehenden Zusammenbruchs ihrer ohnehin brüchigen Autorität in Sierra Leone hat sie nun auch Nigeria gebeten, wieder eine Eingreiftruppe in das Land zu schicken, nachdem erst vor zehn Tagen die letzte Einheit der nigerianisch geführten westafrikanischen Eingreiftruppe Ecomog nach mehrjähriger Präsenz abgezogen worden war. Nigerias Regierung sagte ein erneutes Eingreifen prinzipiell zu, solange die UNO dafür bezahle. Die hat aber schon genug damit zu tun, Geld für ihre eigene Blauhelmtruppe aufzutreiben.

Die Autorität der UNO in Sierra Leone reicht inzwischen kaum noch über ihr eigenes Hauptquartier hinaus. Während die britische Eingreiftruppe die zentralen Einrichtungen der Infrastruktur übernimmt, haben sowohl Sierra Leones Regierungsarmee wie auch die Rebellenbewegung RUF (Revolutionäre Vereinigte Front) ihre Waffen wieder ausgepackt. Regierungssoldaten führten am Montagabend einen Protestmarsch von mehreren tausend Menschen zum Haus von RUF-Führer Foday Sankoh in Freetown und versuchten es anzugreifen. RUF-Kämpfer schossen auf die Menge und töteten mindestens vier Personen. Erste UN-Meldungen, wonach Sankoh als Folge der Auseinandersetzungen verschollen sei, wurden gestern wieder korrigiert und lieferten einen weiteren Beweis dafür, dass die UNO den Überblick über die Lage verloren hat.

Von den Landesgrenzen Sierra Leones wurden derweil Flüchtlingsbewegungen gemeldet. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR berichtete, an der Grenze zu Guinea seien in den letzten fünf Tagen 265 Flüchtlinge angekommen, meist uniformierte Regierungssoldaten.

„Dass die Soldaten die Region verlassen, lässt eindeutig darauf schließen, dass die Rebellen das Grenzgebiet kontrollieren“, sagte UNHCR-Sprecher Kris Janowski gestern in Genf.