Autorin El Hor erhält Werkausgabe: Sehnsucht läuft ins Leere
Sie nannte sich El Hor und provozierte die Gesellschaft um 1900 mit grotesker, tieftrauriger Kurzprosa. Nun wurde die Identität der Autorin enthüllt.
Wie viel Sehnsucht empfinden Orchideen? Will man einer Erzählung El Hors glauben, so sehnen sich die „seltsamen Blumen“ ständig. Von ihrem Platz im langweiligen, künstlich beleuchteten Blumenladen aus verzehren sie sich nach dem dunklen Dickicht des Urwalds, „wo sie bestimmt sind, über tausend Gefahren zu blühen“. Wo sie inmitten all der „Todesmöglichkeiten“ auf die Kolibris warten – und auf deren spitze, honigsuchende Schnäbel.
Bereits den Pseudonymen der Autorin ist die Sehnsucht nach einer anderen, intensiveren Wirklichkeit eingeschrieben. El Hor oder El Ha, das klingt nach einem Ort jenseits gutbürgerlicher Blumenläden oder der alten Habsburgermetropole Wien, ihrer tatsächlichen Heimat. „Theaterstraßen! Theaterfiguren! Theaterleben! Träume, Gedichte, Possen – aber keine Wirklichkeit“, lästert die Autorin in ihrer Skizze „Wiener Briesel“.
Solche provokanten Skizzen und Kurztexte verfasste El Hor nach 1900, einige, manche unter diesem, manche unter jenem Pseudonym. Ihre Identität blieb indes ungeklärt. Dass wir im Jahr 2025 nun endlich wissen, wo die Autorin lebte und wer überhaupt hinter den Masken steckte, ist Claus Zittel zu verdanken. Der Stuttgarter Literaturwissenschaftler und Philosoph hat unter dem Titel „Streichhölzer“ das Werk El Hors neu herausgegeben, kommentiert und die Identität der Autorin offengelegt.
Lange führte die einzig eindeutige biografische Spur über den Schriftsteller Paul Leppin. 1922 spekuliert er in einem Artikel in der Prager Presse über die Identität dieser Autorin, die so unprätentiös über die „Perversion des Geschlechts“ und die „Qual der Kreatur“ schreibt, und ist sich dabei sicher: „Es ist eine Frau.“ Gut 70 Jahre später suchte der erste Herausgeber El Hors, Hartwig Suhrbier, ihre Identität zu enthüllen – und scheiterte.
El Hor / El Ha: „Streichhölzer“. Herausgegeben von Claus Zittel unter Mitarbeit von Lea Schober. C. W. Leske Verlag, Düsseldorf 2025. 368 Seiten, 28 Euro
Im Nachwort der Werkausgabe „Die Schaukel. Schatten“ von 1991 berichtet er von seinen umfangreichen Recherchen, auch in Wien. Suhrbier entdeckte, dass El Hor und El Ha dieselbe Person sind. Als er im Literaturarchiv Marbach auf die Verträge von El Hors Verleger Hermann Meister stieß, folgte aber die Enttäuschung: Selbst ihren Vertrag unterzeichnet die Autorin mit Pseudonym!
Veröffentlichungen neben Musil und Kafka
Immerhin war über Suhrbiers schmale Werkausgabe etwas Aufmerksamkeit auf El Hor gelenkt, die in zahlreichen namhaften Zeitschriften Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hatte, neben jungen Avantgardisten wie Gottfried Benn, Robert Musil und Franz Kafka. Zu sprechen scheint El Hor oder El Ha ausschließlich durch diese Texte, durch Orchideen, den Teufel, sadomasochistische Frauen oder die leblosen Theatergassen Wiens. Nur: So sehr die große Unbekannte den Theaterkulissen der Kulturmetropole spottete, so sehr spielte sie selbst ein Maskenspiel.
Die Maske hat ihr Claus Zittel nun posthum entrissen. Wie Suhrbier durchforstete der El-Hor-Bewunderer die Nachlässe der Herausgeber. Weil die Autorin in der Prager Presse veröffentlicht hatte, reiste auch Zittel nach Prag. Im Zeitungsarchiv entdeckte er nicht nur ein drittes Pseudonym: L. v. Böheim und darüber weitere Texte. Auch fand er einen Brief an die Redaktion: Darin bittet die ominöse L. v. Böheim um Zusendung von Belegexemplaren an ihre Wiener Adresse, an eine gewisse Else Onno. Und damit nicht genug, denn der Name weist mitten ins Wiener Theaterleben: Else Onno, El Hor, El Ha, L. v. Böheim war niemand Geringeres als die Frau des beliebten Burgtheaterschauspielers Ferdinand Onno.
Den hatte die 1883 in Paris geborene Else Sprinkmann möglicherweise in Berlin kennengelernt, dort in jedem Fall 1905 geheiratet. Ferdinand Onno begann in Berlin an der Seite des großen Theaterinnovators Max Reinhardt gerade seine Karriere, die ihn bald ans Wiener Burgtheater führte. Mit seinen intensiven Charakterdarstellungen erregte und schreckte Onno sein Publikum. Der große Wiener Provokateur Arthur Schnitzler schätzte ihn als Darsteller.
Die Texte seiner Frau Else Onno wiederum tragen Titel wie „Das Publikum“, „Pantomime“ oder „Die Probe“ und strotzen vor Anspielungen auf das Theater; mal mit pikantem Spott, mal gibt die Bühne bloß El Hors typischer Lust- und Todessehnsucht Raum. So auch in einem ihrer faszinierendsten Prosatexte, „Das Abenteuer“. Bereits der Auftakt zeigt all ihr Talent, alltagsnahe wie groteske Begebenheiten zu schildern: „Er saß in einem Theater, ganz vorn im Parkett. Es war Pause, und er saß auf der Sitzlehne mit dem Rücken zur Bühne und starrte ins Publikum. Er sah aus wie ein Hund.“
Protagonistin der kurzen Erzählung ist eine Frau. Sie spürt den hasserfüllten, „ingrimmigen“ Blick des hässlichen Hundemannes – und ist verzückt. Lachend stellt sie sich vor, wie es wäre, würde der Mann „gleich laut bellend über die Sitzreihen springen und ihr die Kehle durchbeißen“.
Pointierte Kurzprosa
Wie es weiter geht? Überraschend, lakonisch, brutal. El Hor liebt die pointierte Kurzprosa – wie Franz Kafka, Robert Walser oder der von ihr als „wiener Orientale“ gefeierte Kaffeehausliterat Peter Altenberg. Manche ihrer Porträts brauchen nur wenige Zeilen, um die Lesenden mit grausamen wie betörenden Szenarien zu konfrontieren.
Wie ihre Nachfolgerin im Geiste Elfriede Jelinek beschäftigen El Hor dabei besonders die Möglichkeiten weiblicher Sexualität. Zu einer Zeit, in der Hysterie verschwenderisch oft diagnostiziert wurde und Otto Weiningers misogynes Lebenswerk „Geschlecht und Charakter“ (1903) Bestseller war, bewegten sich ihre aufreizend geschriebenen Texte fernab des Mainstreams.
„Er verstand nicht mit Prinzessinnen umzugehn, darum habe ich ihn getötet“, konstatiert die Protagonistin der Erzählung „Die Närrin“ über ihren ehemaligen Liebhaber, den sie auch ihren „Sklaven“ nennt. Für den Mord zahlt die „Närrin“ aber einen hohen Preis und soll hingerichtet werden. Oft sind die Texte El Hors von einer tiefen Traurigkeit gekennzeichnet. Die Sehnsucht ihrer Außenseiterfiguren, ob es Närrinnen oder seltsame Orchideen sind, läuft meist ins Leere. Die Gesellschaft um 1900 sanktioniert gnadenlos, gerade, wenn es um die Lust von Frauen geht.
Kein Foto der Autorin aufgefunden
Else Onno wollte El Hor bleiben. Für den detektivischen Herausgeber Claus Zittel war das Reiz und Herausforderung: „Das Suchen ist zum Mäusemelken“, liest man im amüsanten wie spannenden Nachwort. Neben den Entdeckungen bleiben viele Leerstellen. So konnte Zittel kein Foto der Autorin finden. Während ihr illustrer Ehemann viel auf der Bühne fotografiert wurde, gibt es keine Fotografien, die ihn jenseits seiner Rollen zeigen und auch keine Privatfotos der Familie Onno. Überhaupt lebte das Ehepaar weitab des Wiener Burgrings im südlich gelegenen Meidling, von 1914 bis zu seinem Tod.
Else Onno starb 1963, ihr Mann 1969. Nur ein Jahr später folgte ihr Sohn Max Onno: Er erlitt einen Schlaganfall auf Sylt. Er war gerade dabei, einen Vortrag über sein Fachgebiet der Botanik zu halten. Was ihm seine Mutter wohl von ihrer Faszination für Orchideen mitgegeben haben mag?
Von El Hor, El Ha, L. v. Böheim oder ihrem bürgerlichen Namen, unter dem sie einige durchaus spöttische Reiseimpressionen und sogar Gedichte veröffentlichte, war nach 1923 nichts mehr zu lesen. Kann es womöglich sein, dass sie bis zu ihrem Tod vor allem das tat, was in einem Nachlassdokument steht – „Haushalt“? Das wäre ernüchternd, würde aber zu ihrem sehnsüchtig-traurigen Porträt der Orchideen passen, die statt im Urwald am Ende nur im Schaufenster verbleiben. Und dort „langweilten sie sich entsetzlich“.
Für El Hors Werk gilt natürlich das Gegenteil: für sensible Gemüter vielleicht entsetzlich, aber niemals langweilig.
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