Autor Ulrich Peltzer: "Groteske Rückkehr des Bürgerlichen"
Mit seinem Roman "Teil der Lösung" erforscht Ulrich Peltzer die gesellschaftlichen Verhältnisse Berlins. Sein Held: ein prekärer Medienarbeiter ohne Karriereplan.
taz: Im Roman stehen städtische Phänomene als Chiffren für ökonomische und politische Verhältnisse. Der Potsdamer Platz etwa verweist auf die Verbindungen zwischen Konsum und Überwachung. Warum urbanistische Fragen in einem Roman?
Ulrich Peltzer: Wenn wir von Berlin-Roman reden, dann gilt es, zugleich die Probleme zu verhandeln, die hier auf signifikante Weise und in großer Geschwindigkeit ablaufen, die in anderen Städten wie etwa München, Paris oder London 20, 25 Jahre gedauert haben - der Umbau der Stadt, die Segregierung, Stichwort Gentrifizierung. In Berlin spiegeln der Potsdamer Platz und das Sony Center als neues urbanes Zentrum eine bestimmte Vorstellung von Stadt wieder, inklusive der Einschluss- und Ausschlussmechanismen, für den diese Art von Städte bezeichnend sind. Insofern hat Berlin etwas Modellhaftes.
Es gibt wenige Autoren, die den Blick auf das Alltägliche mit einem Gespür für untergründige Strömungen im gesellschaftlichen Bewusstsein verbinden können und dann in präzise, schöne Sätze zu übersetzen wissen. Ulrich Peltzer ist einer davon. 1975 zog er nach Westberlin, pünktlich, um linksradikale Gruppen, alternative Lebensstile und die Wirkung von Punk und neuen französischen Philosophen studieren zu können.
In seinen ersten drei Romanen widmete sich Peltzer den spezifischen Berliner Milieus, in "Bryant Park" schrieb er über den 11. September. Die Protagonisten seines neuen Romans, der im Berlin des Jahres 2003 spielt, erscheinen wie Echos von Namen, die man schon einmal gehört hat. Peltzers Figuren sind zerrissen zwischen bürgerlichen Ansprüchen, romantischen Vorstellungen vom besseren Leben und den Zwängen einer flexiblen Ökonomie.
Es ist ein akademisches, intellektuelles Milieu, das Peltzer beschreibt, zu dem die radikale Studentin genauso gehört wie der bürgerliche Dozent. "Teil der Lösung" handelt vom prekären Leben und dem Politischen, ist aber auch ein Berlin-Roman, der von Gentrifizierung erzählt.
Wenn man einen Schnitt durch die Zeit legt und das Jahr 2003 nimmt, in dem der Roman spielt, kann man die verschiedenen Momente von Stadt, die im Augenblick im Prozess sind, darstellen. Deswegen hat das Buch als Prolog das Sony Center und als Epilog Belleville, einer der wenigen Stadtteile von Paris, der noch nicht gentrifiziert ist und ein Bild des Nichthomogenen darstellt.
Vor kurzem war zu lesen, in Berlin lebten 40 Prozent der Schulkinder von Hartz IV. Warum erscheinen die Probleme von Migration und Armut bei Ihnen in Paris und nicht in Berlin?
Der Roman ist keine Elendsreportage, und ich habe noch so viel Empathie den Figuren gegenüber, dass sie eher in die Kategorie der Taugenichtse oder Tagediebe fallen. Sie sind also jung und energetisch genug, um die Klippe Hartz IV grade noch zu umschiffen. Christian, die Hauptfigur, ist 35 oder 36. De facto wird er zehn Jahre später, wenn nichts Entscheidendes passiert, biografisch, beruflich, ökonomisch, aber vermutlich so marginalisiert sein, wie er es im Augenblick noch nicht ahnt. Diese Probleme zeigen sich in Belleville in besonders verdichteter Form. Was ich dort so schlagend fand, ist das Glücksspiel Bingo, das in sämtlichen Kneipen über Standleitung auf den Fernsehern läuft. Es ist Ausdruck einer Hoffnungslosigkeit und einer Hoffnung zugleich, eines Tages den Bingo-Schein richtig ausgefüllt zu haben. Das Schöne an Belleville ist, dass diese Heterogenität in dem Augenblick, wo der Umschwung in die Gentrifizierung stattfindet, außerordentlich lebendig, wirbelnd und spannend ist. Ähnliches ist in Berlin im Wrangelkiez zu beobachten. Es dauert nicht mehr lange, und er wird auch umkippen.
Christian steht für den prekär lebenden Medienarbeiter, der als Zwischennutzer in einer Wohnung lebt, die seiner Exfreundin gehört, bis die Renovierungsarbeiten beginnen. Ist die Frage, wie und wo Menschen leben, heute zu einer Schlüsselfrage geworden, wenn man beschreiben will, welcher Schicht oder Klasse jemand angehört?
Ich glaube, das ist wesentlicher geworden. Mir scheint, dass eine bestimmte Form des Konformismus auf eine eigenartige Weise wieder sozial prägnant wird: Dass die Leute heiraten, dass sie Wert auf Einrichtung legen und auf die Gegenden, in denen sie wohnen, also auf all das, was man mit dem nicht sehr genauen Begriff bürgerlich bezeichnen könnte. Das ist ein fast schon resignatives Moment, so erlebe ich das jedenfalls. Die unreflektierte Rückkehr des Bürgerlichen, die vollkommen ausblendet, was auch an politisch-emanzipatorischem Potenzial im Bürgerlichen steckt, die sich reduziert auf Stilfragen und Einrichtungsgegenstände, nimmt im Augenblick fast schon groteske Züge an. Sie hat aber natürlich auch eine politische Funktion.
Christian, der Protagonist des Buchs, ist aufgrund seiner ökonomischen Lage gar nicht imstande, an einem bestimmten Diskurs seiner Generation teilzunehmen. Er ist, das ist ein furchtbar heideggerisierendes Wort, vollkommen unbehaust, er hat keine Wohnung, er hat keinen richtigen Job, Geld hat er auch keines. Er nimmt einen Kleinkredit auf, um seine Recherche zu finanzieren. Er hat wenige Prinzipien, aber ein Prinzip lautet: Er wird nicht wieder ins Büro ziehen, wenn er aus dieser Wohnung raus muss. Er hängt also vollkommen durch, während sein Freund Jakob, der in dem Roman auch eine Rolle spielt, eine Frau und zwei Kinder hat. Er ist auf Grund seiner biografischen Situation gezwungen, sich mit ganz anderen Problemen auseinanderzusetzen.
Die prekäre Lage des einen scheint die bürgerlichen Tendenzen des anderen zu bedingen.
Es ging darum, verschiedene Lebensentwürfe auf eine niedrigschwellige Art und Weise im Buch nebeneinander her laufen zu lassen. Natürlich sind meine Sympathien eher bei Christian. Ich hatte noch einmal große Lust, so jemand als Modell zu nehmen. Denn dadurch, dass er so kaum Anbindungen an das hat, was eine normale bürgerliche Existenz ausmacht, ist er viel offener für Projektionen, Zuschreibungen, Illusionen, Phantasmen etc. Jemand, der sehr fest in einem Rahmen lebt, mit einem Job, mit einer Familie, möglicherweise mit Ratenkreditverträgen, bietet mir als Autor gar nicht mehr die Möglichkeit des Phantasmas, in das man hineinprojizieren könnte. Deswegen habe ich die Figur möglichst bindungslos dargestellt.
Das Phantasma, dem Christian nachjagt, ist der des bewaffneten Kampfs der Roten Brigaden. Deren Motive sind ihm zwar verständlich, er weiß aber auch, welche Fehler dort gemacht worden sind. Er trifft eine junge Frau namens Nele, die in einer militanten linken Gruppe aktiv ist, diese aber verlassen will. Trotz seines Titels steht der Roman radikalen Lösungen demnach skeptisch gegenüber.
Nele stellt in einem Gespräch mit einem ihrer Freunde die Frage nach der Organisation. Wie organisiert man politischen Widerstand? Im Grunde sind das alte Fragen, die im Roman nicht explizit verhandelt werden, aber eine Rolle spielen, und im Italien der Siebzigerjahre eine große Rolle gespielt haben, als es eine militante Massenbewegung gegeben hat, die scheiterte. Neles Bekannter sagt, es gehe ihm nur darum, einen Strich zu ziehen: Das lasse ich mir nicht mehr bieten. Sie dagegen fragt tastend nach der Wirksamkeit eines Widerstands, der keinen Anschluss hat an das, was eine materielle Kraft der Veränderung sein könnte.
Es gibt eine Opposition gegen bestimmte Formen der Ökonomie, des Stadtumbaus etc., die aber nicht gebündelt ist. Die alte Frage, die auf eine - natürlich modulierte - Weise wieder aktuell wird, lautet: Kann man das bündeln, kann man eine Art von Repräsentativität entwickeln. Nele argumentiert, Autos anzuzünden oder bei einer Demonstration Steine zu schmeißen seien leere Zeichen, weil es keine weitergehenden Konsequenzen hat und sich nicht anschließt an soziales Handeln. Und eben darum geht es: Wie könnte eine soziale Praxis aussehen? Das spielt als Diskurs unterhalb des Textes eine Rolle, in den Köpfen der Leute, auch wenn es nicht immer ausgesprochen ist.
Egal ob junge Aktivisten, Staatsschützer, Professoren oder Journalisten, fast alle Personen im Roman haben es zu einer gewissen Meisterschaft im taktischen Handeln gebracht. Aber niemand scheint so recht den strategischen Überblick zu haben, Ziele scheinen fern.
Das ist auf den Punkt gebracht. Es hat ja nicht nur ein realer Umbau von Gesellschaft stattgefunden in den letzten zwanzig Jahren, sondern auch von politischer Begrifflichkeit. Die einfache, binäre Ordnung der Welt, die wir vor 25, 30 Jahren noch hatten, gut - schlecht, links - rechts, fortschrittlich - nichtfortschrittlich, gilt so nicht mehr. Eigentlich müsste man sich die Frage des Strategischen stellen: Worauf läuft die derzeitige Entwicklung gesellschaftlich hinaus und worauf könnte ein Widerstand gegen diese Prozesse abzielen?
Die Gegenfrage lautet: Ist das wichtig, muss man das? Oder reicht es aus, in bestimmten konkreten Situationen einfach zu handeln? Das ist das Problem vieler politischer Bewegungen heute von Attac bis hin zu militanten Gruppen. Die Formulierung eines strategischen Konzepts sehe ich eigentlich bei keiner Gruppe. Man hat sich vom Repräsentativen gelöst und gesagt: Wir sprechen nicht mehr für andere, "im Namen von". Die Frage ist, ob es ohne das Sprechen im Namen von geht. Das ist mir im Vorfeld des Romankonzepts durch den Kopf gegangen.
Ulrich Peltzer: "Teil der Lösung". Ammann-Verlag, Zürich 2007. 455 Seiten, 19,90 Euro
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