Autor John Updike ist tot: Die Nuancen des Normalen

John Updike, der "Spion im Amerika des Durchschnitts", starb am Dienstag mit 76 Jahren. Er liebte es, die Beziehungsprobleme der weißen Mittelschicht zu beschreiben.

Beschrieb gnadenlos Alltagshelden: John Updike. Bild: reuters

Promiskuität! Selbstverwirklichung! Es ist das Jahr 1968, in dem sich John Updike als Superstar in die Geschichte der US-amerikanischen Literatur einschreibt. Sein Roman "Ehepaare" (im Original schlichter: "Couples") erscheint. Millionenauflagen. Titelbild beim Time-Magazin. Offenbar das richtige Buch für eine Gesellschaft, die sich fragt, wie sie Glück, Sexualität und Familienleben miteinander in Einklang bringen kann. Updike ist damals 36 Jahre alt und von da an ein lebender Klassiker. Und zwar, indem er die Seitensprünge und Beziehungsprobleme innerhalb der amerikanischen Mittelschicht in einer Kleinstadt an der Ostküste beschreibt.

Wer das Buch heute als Nachgeborener liest - während sich die Aufregung um die sexuelle Befreiung gelegt hat, die großen Fragen um Glück, Sex und Bindungen aber geblieben sind -, kann feststellen, dass es erstaunlich aktuell ist: der Roman einer Situation, in der es nicht nur reaktionär, sondern geradezu lächerlich erscheint, Sexualität die Freiheit nehmen zu wollen, in der man aber gleichzeitig auch nicht vom Ideal glückender Zweisamkeit lassen will.

John Updike hat gute Voraussetzungen, um die Ambivalenzen einer solchen Situation zu beschreiben. Einerseits ist er ein Erotomane von Gnaden; man bekommt unmittelbar Lust auf Ehebruch, wenn man die mit religiöser Inbrunst betriebenen Sexszenen zwischen dem Bauunternehmer Piet Hannema und seiner Geliebten Foxy Whitman liest. Andererseits ist er als Erzähler distanziert genug, um alle Seiten solcher Affären in den Blick zu nehmen. Zu den Höhenpunkten des Romans gehören die traurigen Dialoge von Piet und Angela Hannema im Ehebett - rasende Zweifel an der Ehe kann Updike ebenso zwischen die Zeilen packen wie nicht artikulierte Trennungsangst.

Es gibt in der Literaturgeschichte eine heroische Linie - "Ulysses", "Lolita", Henry Miller -, in der gesellschaftliche Emanzipation an die Erkämpfung freizügiger Sexdarstellung gekoppelt wird. John Updike ist einen Schritt weiter. Er kann souverän über Sex schreiben, und doch ist aus seinen Romanen kaum einmal ein Triumph der Befreiung ablesbar - eher ein selbstbewusstes: Na, dann schauen wir mal, wie es sich in einer Situation tatsächlich lebt, in der einen weder Moral noch Gesellschaft ernsthaft daran hindern, dem eigenen Glückswollen nachzugehen!

In seinen 1989 erschienenen autobiografischen Skizzen "Selbst-Bewusstsein" formuliert er sein literarisches Programm. Er will Romane schreiben, die in der Lage sind, die "Nuancen innerhalb des Normalen aufzuspüren". Solche gekonnt geschilderten Nuancen und Ambivalenzen des Normalen sind es, die "Ehepaare" weiterhin so aktuell erscheinen lassen. Nicht nur "Ehepaare". Die Nuancen des Normalen haben John Updike ein fruchtbares Autorenleben lang fasziniert.

Seine längst in die Weltliteratur eingegangenen "Rabbit"-Romane widmen sich nichts anderem als den Kompliziertheiten des Privatlebens. Man kann die Reihe als Chronik der amerikanischen Mentalität in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lesen, von den Aufbruchsfantasien (und ihren Ambivalenzen!) in den Sechzigern bis zur Saturiertheit der Reagan-Jahre und auch noch der danach einsetzenden Verunsicherung. Wirklich bedeutsam macht die Romane aber die Gnadenlosigkeit, mit der Updike seinen Alltagshelden Harry Angstrom beschreibt: ein Ehebrecher und Angsthase, einer, der stets dem Glück hinterherläuft und es nie recht schafft, er selbst zu sein.

Die "Rabbit"-Reihe (1960-2002): Fünf Bücher, fünf Jahrzehnte: Harry Angstrom versucht zeit seines Lebens, aus dem Mittelstandsdasein auszubrechen. Und scheitert. Updike erzählt eine Lebensgeschichte und bildet die materielle und psychologische Entwicklung Amerikas zwischen 1950 und 2000 eindringlich ab.

"Ehepaare" (1968): Updikes erfolgreichster Roman spielt in der Kennedy-Ära: Wohlhabende Paare plauschen auf Partys, treffen sich beim Sport und tauschen die Partner. Untreue wird zum Ausweg aus Belanglosigkeiten.

"Selbst-Bewusstsein" (1995): In der Autobiografie erforscht Updike seine Erinnerungen. Neben glücklichen Momenten im heimatlichen Pennsylvania findet er vor allem eigene Schwächen.

"Gott und die Wilmots" (1996): Ein Epos über den Zerfall der Arbeiterklasse und die Suche nach Erfüllung. Die Wilmots haben Probleme mit Gott. Und der Welt. Ihre Geschichte beginnt, als der Prediger Clarence seinen Glauben verliert, und endet, als sein Urenkel einer ominösen Sekte beitritt.

"Terrorist" (2006): Updike versucht, einen 18-jährigen Attentäter zu verstehen, und zeigt, wie die sexualisierte und ignorante westliche Gesellschaft die Schuld an dessen Entscheidungen trägt.

Die Schönheit besteht darin, dass Updike diesen Harry Angstrom mit einem Pathos und einer höheren Komik behandelt, als würde er gerade von ihm tiefste Aufschlüsse über unsere Existenz auf Erden erwarten. Der Alltag wird in den Romanen zum Forschungsgegenstand und zum Rätsel zugleich. In "Selbst-Bewusstsein" schreibt Updike: "Ich betrachtete mich als literarischen Spion im Amerika des Durchschnitts, der öffentlichen Schulen, der Supermarkets." Und, so an der Stelle weiter, er schreibe Bücher, "wie ein Forscher Berichte aus dem Busch sendet".

Dazu, so zu schreiben, gehört die Bereitschaft zu furchtloser Selbsterforschung, zu gnadenloser Beobachtung der sozialen Umgebung und zu einer großen Skrupellosigkeit, das Beobachtete auch zu veröffentlichen. Woher Updike diese Bereitschaft hat, ist ein Rätsel. Kleinstadt. Einzelkind. Musisch nicht uninteressierte Mutter. Als Lehrer prekär beschäftigter Vater. John Updike ist aufgewachsen wie viele andere Menschen auch. Es gibt aber auch Außenseitersignale: Er litt von Kindheit an an Schuppenflechte, außerdem stotterte er. Dass seine Schuppenflechte ihm die nötige Härte zum Schriftstellerberuf beibrachte, hat Updike selbst einmal gemeint; etwas an dieser Kindheit muss ihm jedenfalls einen gnadenlosen Ehrgeiz eingepflanzt haben und gleichzeitig das Selbstbewusstsein, diesen Ehrgeiz durch die Literatur befriedigen zu können. Bereits nach allerersten Erfolgen im New Yorker zieht er von Manhattan aus ins Städtchen Ipswich in Massachusetts. Hier lebt er mittendrin im Durchschnittsleben der amerikanischen Mittelklasse, aber abseits des amerikanischen Literaturbetriebes.

"Ich habe mich ermächtigt gefühlt, das Leben zu beschreiben, so genau ich konnte, unter besonderer Berücksichtigung menschlicher Erosionen und Verrätereien." Dieses Ermächtigungsprogramm puffert spätestens der ältere Updike mit religiös grundierten Sentenzen ab: "Nachbilden bedeutet preisen" oder, weltlicher: "Im Beschreiben äußert sich Liebe." Wie sorgfältig er die Hellsichtigkeit gegenüber menschlichen Verrätereien mit der Liebe zu seinen Figuren auszutarieren versteht, zeigt sich vor allem in dem großen späteren Roman "Gott und die Wilmots". In dieser Familiengeschichte über vier Generationen zeichnet Updike vielfältige Möglichkeiten nach, das Leben zu verfehlen. Aber von einer Verfallsgeschichte hält er sich meilenwelt entfernt. Sein Leben zu leben und sein Leben zu verfehlen sind für ihn ein und dasselbe. Und stets behält er die Sicherheit, dass es sinnvoll ist, von den Nuancen dieser Verfehlungen zu erzählen.

Der Wille, die Rätsel der menschlichen Existenz mit hoher literarischer Finesse gerade im Alltag durchschnittlicher Figuren zu suchen, hat Updike - neben dem fast gleich alten Philip Roth - zum Vorbild ganzer Generationen amerikanischer Erzähler werden lassen, von Richard Ford bis hin zu Rock Moody und Jonathan Franzen. Nur beim schwedischen Nobelpreiskomitee kam Updike damit nicht gut an. Es wertete - ein großes Missverständnis! - seine Identitätssuche im angeblich Vertrauten als blanken Realismus und ließ ihn leer ausgehen. Eine wirklich groteske Fehlentscheidung, die nun nicht wieder gutzumachen bleiben wird.

Was man an seinen Büchern lieben muss: dass die Unerbittlichkeit der Beschreibung in ihnen hin zur Menschenfreundlichkeit führt. Am Dienstag ist John Updike im Alter von 76 Jahren an Lungenkrebs gestorben.

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