Autor Boris Pahor über neuen Faschismus: „Finden wir einen anderen Sinn“
Boris Pahor war im KZ und lebt jetzt als Angehöriger der slowenischen Minderheit in Italien. Trotz Rechtsruck hat er den Menschen noch nicht aufgegeben.
taz am wochenende: Herr Pahor, wussten Sie, dass man sogar in Berlin Slowenisch lernen kann? Das slowenische Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Sport macht das möglich.
Boris Pahor: Ich war ein paarmal in Deutschland und hatte immer eine gute Übersetzerin. Zum Beispiel wenn ich in Dora-Mittelbau bin, dem Lager, in dem die V2 gebaut wurde. Dorthin werde ich als Überlebender immer wieder zu Gedenkveranstaltungen als Zeitzeuge eingeladen. Ich spreche zwar auch Deutsch, aber nur für die Reise.
Sie haben Deutsch in deutschen Konzentrationslagern gelernt.
Ich würde gerne slowenisch sprechen, wenn das zur Verfügung steht. Aber warum möchten Sie überhaupt mit mir sprechen?
Wir dachten, dass es angesichts des wieder aufflammenden Faschismus angebracht wäre, mit möglichst vielen Zeitzeugen …
Am Anfang war der Faschismus, Mussolini. Hitler betrachtete ihn als seinen Lehrer. Mussolini präsentierte sich als Nachfolger der Römer – aber er hat das römische Imperium verändert, indem er der Kirche den Vatikan gegeben hat.
1929 wurde der Staat Vatikanstaat gegründet, Papst Pius XI. und Benito Mussolini unterschrieben die Verträge.
Leider ist die Kirche dann fast faschistisch geworden – denn alles, was Mussolini wollte, wurde vom Vatikan auch genehmigt. Die Faschisten wollten zum Beispiel keinen Slowenen als Erzbischof in Gorica – also musste er gehen. So kam es, dass später die slowenischen Katholiken gemeinsam mit den Kommunisten für die Freiheit und gegen den Faschismus kämpften, auch wenn der Vatikan kategorisch gegen eine solche Zusammenarbeit war.
Sie waren Teil dieses Widerstandes, Teil der slowenischen Befreiungsbewegung.
Ich spreche als Slowene über den Faschismus, genauer: als Angehöriger des slowenischen Teils von Triest. Wir waren hier eigentlich keine Minderheit – dann hatten wir Pech, als Italien ein richtiger Staat wurde und ein Teil der Bevölkerung hier sagte: Triest muss italienisch werden. Die Bevölkerung von Triest war von Anfang an gemischt und ist es auch heute noch. Die Serben haben hier ihre Hauptkirche, die Kirche des Heiligen Spyridon, am Canal Grande. Die Griechen haben unten beim Meer ihre Kirche, die Juden ihre große Synagoge.
Die Situation eskalierte dann nach dem Ersten Weltkrieg.
1918 bekamen die Italiener Triest zugesprochen – konkret: Triest-Trento, also auch das ganze Gebiet dahinter bis zum Triglav, bis zu den Julischen Alpen. Und dann kamen die Faschisten und wollten, dass alle Italiener werden. Wir Slowenen waren die Ersten, die wegen des Faschismus leiden mussten.
1920 wurde der Narodni dom, das slowenische Kulturzentrum in Triest, von den Faschisten angezündet. Da waren Sie sieben Jahre alt.
Ich habe es miterlebt. Sie haben den zu Hilfe kommenden Feuerwehrleuten die Schläuche zerschnitten. 1922 kam dann Mussolini an die Macht – und ich durfte kein Slowenisch mehr sprechen.
Die slowenische Kultur wurde unterdrückt. Heute gibt es wieder ein slowenisches Theater in Triest, die Schilder in der Region sind zweisprachig – es gibt eine italienische Minderheit in Slowenien, eine slowenische in Italien.
Es hat sich sehr verbessert. Erst im Jahr 2000 haben wir ein Gesetz bekommen, das uns schon 1954 versprochen wurde und uns als Minderheit schützt. Es gibt Verlage, sehr gute Sportangebote, Radio von sieben in der Früh bis sieben am Abend. Wir haben es aber noch nicht bis zu einem Vertreter bei der Regierung in Rom geschafft.
Dort sind nun Rechtspopulisten am Ruder.
Ich antworte darauf mal im Namen der slowenischen Bevölkerung: Wir sind sehr unglücklich. Man muss sagen, dass die Italiener schon immer lieber nicht über den Faschismus gesprochen haben. Sie verschweigen ihn lieber. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Jahr 2004 wurde in Italien ein „Erinnerungsgesetz“ verabschiedet – man erinnert sich daran, wie die italienische Bevölkerung unter jugoslawischer Herrschaft Istrien verlassen musste –, aber dieses Gesetz erwähnt mit keinem Wort, was den Menschen dort vor 1945 angetan worden ist, von den Faschisten. Die italienische Bevölkerung weiß bis heute nicht, was der Faschismus bei uns angerichtet hat. Die slowenische Sprache, die Schulen, die Vereine – alles wurde verboten. Es war eine Zerstörung von allem, was slowenisch war. Auch die Kroaten mussten die Region Istrien verlassen. Zwischen den beiden Weltkriegen wurden hier 500.000 Menschen interniert, vertrieben oder beides. Im Zuge der Zwangsitalienisierung.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Hört man Ihnen in Italien zu?
Italiener hier in Triest sagen zu mir: Herr Pahor, Sie haben uns Ihre Vergangenheit aufgezeigt. Wir wussten das nicht, haben die ganze Zeit in Italien gelebt, ohne zu wissen, dass es auch eine andere Geschichte gab. Die Slowenen galten als eine Art Terroristen.
Terroristen?
Die Slowenen waren eine unterdrückte Minderheit. Und schauen Sie sich die radikalen Muslime von heute an, sie rächen das, was Europa in ihren Ländern getan hat. Sowohl in Afrika als auch anderswo. Die Europäer waren Kolonialisten, die Italiener, Franzosen, Engländer, Niederländer, die hatten ganz Afrika in ihren Händen. Und jetzt, da die Menschen aus Afrika flüchten, wollen sie sie nicht haben. „Wir mögen keine Afrikaner.“ Gestern aber habt ihr sie gemocht, zu der Zeit, als ihr deren Kontinent in euren Händen hattet und ihn nach Belieben aufgeteilt habt.
Italien …
… Italien erzählt nicht die Wahrheit über den Faschismus und protegiert ihn so indirekt. Ich weiß nicht, wie es anderswo ist. Wenn die Ungarn wirklich einen Diktator haben wollen, dann werden sie es so einrichten. Ich hoffe, dass dem nicht so sein wird. Ich hoffe, das Europa verschieden und gleichzeitig einig sein wird. Europa, das ist in dieser Form einzigartig in der Welt – Pluralismus inmitten von Einigkeit, das ist so wie in Triest.
Europa ist in Gefahr – und die erstarkenden Nationalismen sind die Hauptbedrohung.
Als die Sowjetunion auseinanderfiel, konnte man sehen, dass Nationalismen eben doch auch eine Wahrheit sind. Neben der Globalisierung hat auch der Partikularismus das Recht, zu bestehen. Es geht um das Recht auf eine gewisse Unabhängigkeit. Nehmen Sie das Beispiel Katalonien – das sind aus meiner Sicht keine Nationalisten. Ich bin Mitglied des Vereins für die Rechte von Sprachminderheiten in Europa – und mit einigen Katalanen befreundet. Ich war mal bei einem Kongress der katalanischen Sprache – und überall hingen kleine slowenische Flaggen. Sie folgen dem slowenischen Beispiel, es reicht ihnen nicht, bloß eigene Schulen zu haben, sie wollen unabhängig sein. Die Europäische Union sollte reif genug sein, mit den Bedürfnissen der Katalanen umzugehen.
Es ist aber auch kompliziert.
Die Geschichte dieser Region hier ja auch – und sie muss umgeschrieben werden, denn so, wie sie jetzt ist, basiert sie auf den Interessen der Italiener. Ich habe gerade ein Buch über meinen Landsmann Edvard Kocbek herausgegeben, einen christlichen Sozialisten, der zusammen mit den Kommunisten gegen den Faschismus gekämpft hat. Er hoffte auf eine Veränderung der katholischen Kirche im Sinne eines Christentums, das Jesus ähnelt. Johannes XXIII. fing damit an. Nach ihm kam dann ein anderer, der wieder alles groß machen wollte.
Paul VI., der dann das ursprünglich von Papst Johannes XXIII. einberufene 2. Vatikanische Konzil zu Ende führte.
Und so wurde der Weg bereitet für die heutigen Probleme der katholischen Kirche – Nietzsche hatte ja völlig recht mit seiner Prophezeiung, dass wir Schwierigkeiten bekommen werden, wenn die katholische Kirche ihre Geltung verliert. Und jetzt sind wir da. Was der jetzige Papst erreichen kann, weiß ich nicht. Viel kann er ja nicht erreichen. Er kann reden, solange er Papst ist.
Immerhin hört man ihm zu.
Wissen Sie, ich durfte im Europäischen Parlament eine Viertelstunde reden. Zuerst sagten sie fünf Minuten, dann zehn – und dann ich habe ich einfach eine Viertelstunde zu den Abgeordneten gesprochen und gesagt: Schauen Sie, wir haben heute keine Lösung. Ich sprach auch über rote Dreiecke. Die Politischen im Lager hatten rote Dreiecke – und da war ein großes I, weil ich Italiener war. Das war ich zwar nicht, aber ich musste Italiener sein.
Als Mitglied der slowenischen Befreiungsbewegung wurden Sie 1944 von der mit den Nazis kollaborierenden Domobranzen-Miliz verhaftet und in das KZ Dachau gebracht. Sie waren auch in Natzweiler-Struthof, in Mittelbau-Dora und in Bergen-Belsen.
Wir müssen nicht nur über die Juden reden, sondern auch über die, die in den Lagern waren, weil sie gegen die Nazis waren, weil sie Homosexuelle waren, weil sie was weiß ich noch alles waren. Es gab sechzehn Arten von Dreiecken. Man war von morgens bis abends hungrig, trotzdem mussten wir von sechs in der Früh bis eins am Nachmittag arbeiten, nach dem Mittagessen dann noch einmal zwei Stunden. Oder Körperübungen. Arme, hungrige Körper, und dann noch Übungen machen. Das war in Deutschland. Wir bekamen ein Stück Brot, so groß wie meine Handfläche und so dick wie zwei Finger. Dann noch eine Suppe, in so einem Gefäß, angeblich ein Dreiviertelliter, drinnen waren Rüben und so was. Nein, warten Sie: Die Suppe war zu Mittag, das Brot um vier. Und wer nicht arbeitete, wenn ihm die Schaufel aus der Hand glitt und er auch noch hinfiel … dann kam der Kapo, trat ihn, verprügelte ihn, hob ihn hoch, gab ihm die Schaufel wieder in die Hände. Und wenn er wieder hinfiel, brachten wir ihn in die Baracke, er sollte liegen, bis er starb. Aber bis zu dem Moment musste er arbeiten. Trotz des Hungers, und das war das Schlimmste.
Die Person
Geboren 1913 in Triest, Österreich-Ungarn (heute Italien) als Angehöriger der slowenischen Minderheit. Als Mitglied des slowenischen Widerstandes wurde er in Dachau, Natzweiler-Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen interniert.
Der Schriftsteller
1967 erschien sein bekanntester Roman, „Nekropolis“ (Berlin Verlag, 2001), in dem er seine KZ-Traumata verarbeitet. Auf Deutsch erschienen sind von ihm u. a. „Piazza Oberdan“ (Kitab Verlag, 2008) und der Novellenband „Blumen für einen Aussätzigen“ (Kitab, 2004).
Und das sollten Sie alles in fünf Minuten erzählen, vor dem Europäischen Parlament?
Ich sagte: Verzeihung, meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas sagen. Ich bin jetzt 104 Jahre alt, ich werde 105. Etwas Erfahrung habe ich mit dieser menschlichen Gesellschaft. Zwanzig Jahre lang hatte ich mit dem Faschismus zu tun. Im Lager litt ich an Schwindsucht. Ich war Sanitäter in Mittelbau-Dora. Heute sind in Deutschland überall Gedenkstätten. Heutzutage ist Deutschland korrekt und gerecht, und dafür muss man Deutschland loben. Auch dafür, dass Deutschland die Hauptmacht im christlichen Sozialismus ist.
Meinen Sie Angela Merkel?
Die Christlich-Sozialen sind stark in Deutschland und die Sozialdemokraten, beide treten für eine gewisse Gerechtigkeit ein. Und man muss Deutschland dafür loben, dass es die Flüchtlinge aufgenommen hat. Frau Merkel hat sie auch aufgenommen, weil sie die Arbeiter braucht. Das ist deutsch. Man hat ihr das dann vorgeworfen, dass sie an Deutschland gedacht hat. Aber es ist eine große Ökonomie, und dort braucht man Arbeiter, die arbeiten und nicht tanzen gehen.
Sie haben Erfahrung mit der menschlichen Gesellschaft – wissen Sie auch, wie es mit ihr weitergeht?
„Wir haben keine Lösung“, das hatte ich ja vor dem EU-Parlament gesagt. Die einzige Lösung, die ich heute sehe, ist, dass wir es so machen, wie wir es beschlossen haben: die Fabriken verändern und versuchen, von dieser Erde noch etwas zu retten. Die Eisberge schmelzen! Alle sollten sich versammeln, die mit und die ohne Macht, und einen Beschluss fassen, der geeignet ist, die Erde zu bewahren. Der Mensch ist heute in der Lage, eine Ziege ohne einen Ziegenbock herzustellen. Und er kann Telefone bauen, die man einfach aus der Tasche zieht, um mit seiner Frau in New York zu telefonieren.
Als Mensch Jahrgang 1907 …
Wenn heute ein Mensch kommt, der vor 150 Jahren gelebt hat, und Sie dabei sieht, wird er sagen: Sie haben das einfach aus der Tasche genommen und gesprochen. Wie geht das? Und Sie werden sagen: Das ist heute normal. Es ist aber nicht normal! Es ist ein Wunder! Oder nehmen Sie die Gentechnik – unglaublich. Aber wissen Sie: Wenn wir wirklich so intelligent sind, dann lassen Sie uns doch einen Sinn erfinden für die Menschheit, damit es nicht so sein wird, wie es bisher war: Kriege, Blut, Gefängnis, Lager. Das kann es ja nicht gewesen sein, dass diese Wundermenschen geboren wurden, um kleine Mobiltelefönchen zu erfinden. Finden wir einen anderen Sinn!
Okay. Wie denn?
Wieso sind wir Menschen mit Gehirnen hier – nur um die Erde zu zerstören? Nur um miteinander zu kämpfen? Alexander der Große, Napoleon, Mao Tse-tung, Hitler, Mussolini – sie alle sind in die Geschichtsbücher eingegangen und waren alle nur Schädlinge. Sie haben gearbeitet, um so viele Menschen wie möglich im Namen der Freiheit und Gerechtigkeit zu zerstören. Und wenn man bedenkt, wie viel heute in so wenigen Händen ist, wie ein einzelner Milliarden besitzt. Mit nur einem Zehntel oder Fünftel der Milliarden von einem dieser Reichen müsste niemand mehr hungern.
Auch was den Hunger angeht, wissen Sie, wovon Sie sprechen. Aus der Küche riecht es schon gut, bald lassen wir Sie in Frieden. Was gibt es heute Gutes?
Heute haben wir eine sehr gute Gemüsesuppe. Eine Minestrone. Aber sie ist püriert, man sieht nicht mehr, woraus die Gemüsesuppe gekocht ist. Aber normalerweise gibt es mindestens drei Elemente. Karotten, Zucchini und was weiß ich. Die Suppe wird püriert, weil ich geliehene Zähne habe.
Und gibt es Nachtisch, Dolce?
Obst, Orangen, Melonen, Trauben mag ich. Süßes mag ich sehr gerne. Kekse oder solche Cremes, die Österreicher sind Spezialisten für so was.
Herr Pahor, danke für Ihre Zeit, und lassen Sie es sich schmecken.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Krieg in Nahost
Israels Dilemma nach Assads Sturz
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trump und Krypto
Brandgefährliche Bitcoin-Versprechen