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Automatikschlaf bei Mr. Bed

■ Wer nachts ein Hotel zum Übernachten sucht, wird heute mitunter nur noch elektronisch bedient

Es ist eine dieser tiefen Nächte zwischen Weihnachten und Neujahr, und ein roter Polo donnert durch die schwarze Nacht. So tief diese Nacht ist, so heilig ist sie auch, denn der rote Polo bringt zwei Pilger nach Chartres. Und diese Pilger sind wir – auf der Suche nach einem Bett für die Nacht. Hinter Troyes schert der Polo rechts rein, um uns zu einem französischen Fast-Sleep-Hotel zu bringen.

„Mr. Bed“, das Hotel, empfängt mich mit großen, aber verschlossenen Glastüren. Das Personal schläft? Und keine Klingel? Da läßt sich auch nichts rütteln. Doch ein kleines Schild verweist auf eine réception automatique. Und meine Augen sehen, was sie nie zuvor gesehen haben. Ein in die Wand eingelassener Bildschirm fordert mich – wahlweise in drei Sprachen – auf: „Please enter your reservation code. Or insert your credit card.“ Wir sind Pilger in der Postmoderne, und so wird meine credit card ein „Sesam, öffne dich“ für eine Höhle in dieser Nacht. Die Prinzessin sitzt im Polo, wartet, raucht. Sie weiß noch nichts von meinem Rendezvous mit der Zukunft. Der Computer fragt mich in einwandfreiem Deutsch oder akzentlosem Englisch nach meinen Wünschen, und ich antworte – per Taste – willig. Ein Telefonanschluß, kein Zusatzbett, kein Weckdienst und kein petit déjeuner, und schließlich gebe ich mein Okay. Ein Computerausdruck verrät mir meine Zimmernummer samt Code für Eingangs- und Zimmertür. Nous vous souhaitons un bon séjour.

Doch noch immer stehe ich vor den riesigen gläsernen Türen dieser Hotelhöhle. Und schon versuche ich mein „Sesam, öffne dich“. Meine Finger – Fleisch und Blut – springen über die Tasten. Wie von Geisterhand bewegt, öffnen sich die Glastüren, und ich dringe in die Welt von morgen. Die Zukunft schmeckt nicht, sie riecht nicht; sie ist klinisch rein und totenstill wie eine Leichenhalle. Ich huste laut, um mich zu hören. Ich rufe hallo, aber niemand antwortet. Das ist zu phantastisch, um wahr zu sein. Ich renne aufgeregt wie ein kleiner Junge nach draußen, atme frische französische Nachtluft und wecke die Prinzessin im Polo. Gemeinsam dringen wir erneut in die seelenlosen Gänge vor und füllen den Raum mit Leben, indem wir laut singend die bagage in unser Zimmer bringen. Es ist ein Fest, und wir sind Gäste für eine Nacht in einer Zukunft ohne Menschen.

Alles funktioniert per Tasten- Touch, und während die Prinzessin sich das Ende von „Hair“ (sic!) im zimmereigenen Kabel-TV anschaut, lasse ich zwei Kartoffeln – jene einzigartige „Indianerknolle“, welche im Schatten der kontinentalen Kulturzerstörung eines Kolumbus ein kleines Prometheus'sches Leuchten hervorzubringen vermag – rösten. Der Koch ist – wie könnte es anders sein – eine Mikrowelle.

Von den vielen bunten Bildern gelangweilt, schauen wir uns im Innern des Zimmers um und beginnen über die Kürze, in welcher das Hotel errichtet wurde, zu rätseln. Wir stellen uns einen Lego-Baukasten für Riesen vor und entwerfen damit zahllose Verwandte von „Mr. Bed“.

Am anderen Morgen verlassen wir „Mr. Bed“, das personifizierte Hotel der Zukunft, durch die Hintertür. Niemand bemerkt uns. Keiner sieht den roten Polo verschwinden. Nur ein Blutfleck auf dem weißen Laken, von der Liebe der Nacht, ist archaisch genug, zu zeigen, daß wir nicht steril sind, daß wir Körper haben. Und mit diesen machen wir uns wieder auf den Weg nach Chartres, um sie in der Kathedrale weihen zu lassen. Carsten Balzer

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