Australien im WM-Ausnahmezustand: Höhenflug der Hysterie

Im Vorfeld des WM-Halbfinales der australischen „Matildas“ gegen England ist jede und jeder ein Fußballfan – sogar in 11.000 Meter Höhe.

Jubel der australischen Fuballerinnen.

Sie gehen höher: die australischen Matildas nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen Frankreich Foto: Darren England/AAPImage/ap

Am Samstag erlebte die Fußball-Hysterie in Australien einen Höhenflug – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein von ihrem Sitz aufgenommenes Video der Journalistin Jacqui Felgate zeigt, wie die Passagiere einer Maschine der Flugline Emirates in kollektiven Jubel ausbrechen. Auf den Bildschirmen ist zu sehen, wie die Matilda-Spielerin Cortnee Vine im Elfmeterschießen ein Tor gegen Frankreich erzielt – der zehnte Schuss für das australische Nationalteam. Eine Flugbegleiterin habe „einen Schock“ erlitten, berichteten die australischen Medien am folgenden Morgen, als die Reisenden plötzlich zu schreien und jubeln begannen. Dasselbe dürfte für den Passagier gegolten haben, der sich scheinbar als Einziger einen Film ansah, statt in 11.000 Meter Höhe die ­Live-Übertragung mitzuverfolgen.

Die Szene ist ein geradezu perfekter Spiegel der Situation auf dem Antipodenkontinent. Nur die wenigsten Australierinnen und Australier können sich in diesen Tagen der kollektiven Fußballeuphorie entziehen, die das Land flächendeckend zu überziehen scheint. Im Vorfeld des Halbfinals der Matildas gegen England am Mittwoch haben die Regierungen mehrerer Bundesstaaten angeordnet, eiligst an öffentlichen Plätzen Großbildschirme aufzustellen. Fußball – Frauenfußball – scheint ein Kollektiv­genuss zu sein.

Das ist noch nicht lange so. Kommentatorinnen und Kommentatoren sprechen von einem „kometenhaften Aufstieg“ dieser Sportart, die in Australien noch vor wenigen Jahren bestenfalls eine Randnotiz im Sportkalender gewesen war. Doch inspirierende Sportlerinnen wie die indigene 400-Meter-Olympia-Siegerin Cathy Freeman ebneten den Weg für den Frauensport, indem sie eine Kultur der Selbstbestimmung förderten und Geschlechterschranken abbauten. Später begannen vor allem lokale Vereine, Schulen und Gemeinden dem Frauenfußball Priorität einzuräumen und boten jungen Mädchen, die sich für diesen Sport interessierten, gleiche Chancen, Trainingsmöglichkeiten und Einrichtungen, wie Jungs diese schon seit Jahren genossen hatten.

Die bemerkenswerten Leistungen der Matildas bei internationalen Turnieren wie der Fifa-Frauen-Weltmeisterschaft sorgten schließlich für Aufmerksamkeit in einem breiteren Publikum. Die Spielerinnen der Nationalmannschaft wurden zu Vorbildern für junge Mädchen. Sportlerinnen wie Sam Kerr, eine der besten Fußballspielerinnen der Welt, ermutigten eine ­breitere Beteiligung von Mädchen und Frauen. Mit dem ­wachsenden Erfolg stieg das Interesse von Förderern und Sponsoren – und das der Medien: Während noch vor zehn Jahren die Aus­tragung eines Frauenfußballspiels in der von Männern dominierten Sport­berichterstattung fast ­despektierlich kommentiert worden war, wäre es heute undenkbar, dass ein Spiel der Matildas nicht im Fernsehen übertragen wird.

Kuss für Mewis

Das vielleicht wichtigste Attribut des Frauenfußballs aber ist, wie der Sport Toleranz und Akzeptanz kultureller, sexueller, sozialer und ethnischer Vielfalt demonstriert. Dass ein Foto von Sam Kerr, die nach dem Spiel gegen Frankreich ihre Lebens­partnerin Kristie Mewis leidenschaftlich auf den Mund küsst, in den sozialen Medien mehrheitlich positive Reaktionen ausgelöst hat, ist im eher konservativen Australien doch bemerkenswert.

Viele Mädchen und Frauen von nichteuropäischem Hintergrund fühlen sich auf dem Fußballfeld gleichwertig. So spielen in australischen Vereinen viele Fliehende aus Afghanistan sowie aus anderen Konfliktländern. Im oftmals rassistischen und xenophoben Australien ist das Fußballfeld einer der wenigen Orte, wo sie sich endlich als das fühlen können, nach dem sich die meisten sehnen: als Australierinnen.

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