Australian Open: Mit dem Bauch dicht am Netz
Mischa Zverev spielt derzeit das mutigste Angriffstennis. Damit hat er Andy Murray, die Nummer eins der Welt, düpiert. Nächster Gegner: Roger Federer.
So weit vorn wie Zverev spielt unter den Besten heutzutage keiner mehr. Die Aggression kommt von der Grundlinie, alles andere, so die mehrheitliche Meinung, sei wegen des größeren Tempos im Spiel zu gefährlich. Mischa Zverev sagt, es dauere einfach länger, das Serve-und-Volleyspiel zu entwickeln, am Anfang werde man halt oft passiert, und das sei für junge Leute nicht leicht zu ertragen.
Aber gegen Murray habe es keine andere Chance, keinen Plan B gegeben. „Ich kann gegen ihn nicht hinter der Grundlinie spielen und versuchen, lange Ballwechsel zu gewinnen. Dazu ist er körperlich viel zu stark.“ Die richtigen Schlüsse zu ziehen ist eine Sache; schon daran scheitern viele. Aber diese Schlüsse in die Tat umzusetzen, einen Mann wie Andy Murray dermaßen zu verwirren und in die Defensive zu drängen, das gehört zu einer ganz anderen Liga.
Spätestens Mitte des vierten Satzes war klar, dass die Sache für Murray brenzlig werden würde. Seit 2011 hatte er in Melbourne nur einmal gegen einen anderen als Novak Djokovic verloren, und nach dessen Abschied in der vergangenen Woche schien die Aussicht auf den ersten Titel in Australien größer denn je zu sein. Aber genauso, wie sich vor ein paar Tagen niemand vorstellen konnte, dass Denis Istomin das Ding durchziehen und Novak Djokovic besiegen würde, schien es auch diesmal nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Murray sich behaupten würde.
Doch das ließ Mischa Zverev nicht zu. Es sei weniger die Zahl der Netzangriffe (118, davon 65 mit Erfolg) gewesen, die ihm zugesetzt hätte, sagte der Schotte hinterher. „Jedes Mal, wenn ich ihn unter Druck gesetzt habe, hat er großartig reagiert. Er hat es verdient, jetzt in der nächsten Runde zu sein.“
Mutter Irina lächelt
Mischa Zverev, der vor zehn Jahren in Melbourne sein erstes Spiel bei einem Grand-Slam-Turnier gewann und danach in sechs Jahren insgesamt nur noch vier, zitterte nicht. Selbst von einem abenteuerlichen Fehler bei einem Schmetterball, den er aus nächster Nähe ins Netz drosch, ließ er sich nicht verwirren.
Irina Zvereva
Er gönnte sich noch mal einen Blick auf die Tribüne, wo er seine Mutter Irina selbst in dieser Situation lächeln sah. Die Mutter lächelnd, der Vater wie immer bei den Spielen des älteren Sohnes angespannt und hochkonzentriert, der Rest der Truppe, darunter sein Bruder Sascha, einigermaßen entspannt. 24 Stunden zuvor hatte die Kombo mit Ausnahme der Mama beim Spiel des Jüngeren gegen Rafael Nadal zugesehen – der Kleine verlor in fünf eindrucksvollen Sätzen. Ihrem Jüngsten zuzusehen, das schafft Irina Zvereva bis heute nicht, beim Älteren ist sie verblüffend entspannt. Wie es ihr in der letzten Viertelstunde des Spiels ging? „Ich war ruhig und hab gedacht, er macht das; eine Mutter merkt, was los ist.“
Man kann ihrem Erstgeborenen glauben, dass er sich bis zum Viertelfinale gegen Roger Federer wieder sortiert haben wird. Die Erinnerung an die letzte Begegnung mit Roger Federer lässt ihn glauben, es sei ein wenig Vorsicht angebracht; im Sommer 2013 verlor er in Halle 0:6, 0:6. Wenn in einer Woche die neue Weltrangliste erscheint, wird er seinen Namen mindestens auf Platz 35 finden, sollte er auch noch gegen Federer gewinnen, könnte er unter den besten 30 in der Nähe seines kleinen Bruders landen.
Mindestens genauso unglaublich ist die Tatsache, dass die zweite Woche der Australian Open ohne die nominellen Spitzenleute stattfinden wird. Die übereinstimmende Einschätzung vor Beginn des Turniers, Murray und Djokovic spielten zurzeit in einer eigenen Liga, führte in die Irre. Mit weiteren Prognosen sollte man vielleicht erst mal vorsichtig sein.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!