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Ausstellung zur Historie des TagebuchsGeheime Entblößung

@bsolut privat: Eine Ausstellung des Museums für Kommunikation in Berlin untersucht die Geschichte des Tagebuchs - vom Logbuch bis zum Weblog.

Das Tagebuch der Anne Frank: Eins der dramatischsten Werke seines Genres. (Darstellung aus dem Wachsfigurenmuseum Berlin) Bild: reuters

Jeder kennt es, viele haben selber eines, so mancher hat schon mal widerrechtlich in ein fremdes hineingeblickt - das Tagebuch, in Papier- und Onlineform ist der Star der Ausstellung "@bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog". In über 300 Exponaten widmet sich das Museum für Kommunikation diesem Inbegriff der Privatsphäre und des Diskurses mit sich selbst, zeigt seine sich verändernden Erscheinungsformen und Funktionen im Wandel der Zeit und setzt ihn ins Verhältnis zu seinem modernen Bruder, dem Weblog.

Um in die Ausstellung zu gelangen, schlägt der Besucher einen großen weißen Vorhang zurück. Dahinter ist das Licht gedämpft, die Farben gesetzt, es ist schummrig, düster, still. Auf leisen Sohlen wandelt man innerhalb der ausgedehnten Räume über 366 überdimensionale bedruckte Teppichfliesen, die für jeweils einen Tag des Jahres stehen: "Heute nichts geschrieben. Morgen keine Zeit." schrieb etwa Franz Kafka am 7. Juni 1912 trocken in sein Tagebuch. "Wenn ich nur jemanden hätte zum immerzu küssen - zum todküssen - nur einmal lieben - nur einmal genießen und dann sterben", sinnierte Alma Mahler-Werfel dagegen sehr emotional am 19. 3. 1900.

Damit lässt sich das gezeigte Spannungsfeld des Themenkreises Tagebuch bereits ganz gut umreißen - von der emotional aufgeladenen Auseinandersetzung mit sich selbst über nüchternes Festhalten und Notieren von Daten und Fakten, der Konversation mit einem zukünftigen Ich oder einem fiktiven Brieffreund reicht der Bogen an Möglichkeiten dieser speziellen schriftlichen Kommunikationsform im Sinne von Max Frisch "Schreiben heißt sich selber lesen".

In seinen Vorstufen des Log- und Rechenbuches bis hin zur aktuellen Form des Weblog präsentiert, enthüllt sich das Tagebuch im Zuge der Ausstellung zunehmend als ein langjähriger, intimer und vielseitiger Begleiter des Menschen. Hervorgehobene Aspekte wie Mobilität, Rhythmus, Dialog und Mehrhändigkeit verleihen der Fülle an Exponaten Struktur und bilden die Grundlage für den angestrebten Vergleich zwischen der klassischen Papierform und virtuellen Blog-Variante des literarischen Intimfreundes.

Neben unterschiedlichen Tagebuchformen größtenteils unbekannter Autoren finden sich zahlreiche episodisch präsentierte Besonderheiten und Kuriositäten, die zum Staunen und Schmunzeln bringen: So schrieb zum Beispiel ein historischer "Logger" aus unbekannten Gründen tägliche Erinnerungen auf kleine Holzstücke, sogenannte Logs. Diese erlebten später ein Revival im äußerst beliebten Internet-Blog seiner Enkelin.

Arthur Schnitzler hatte die Angewohnheit, einzelne Passagen seiner 52 Jahre lang geführten Tagebücher von seiner Sekretärin abtippen zu lassen, Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé führte stets einzelne Blätter aus Goethe-Kalendern auf ihren Auslandsreisen mit und hielt darauf im Telegrammstil ihre Gedanken fest. Auch Bedrückend-Dramatisches ist zu sehen: Auszüge aus Anne Franks persönlichen Aufzeichnungen, die letzten Erinnerungen eines Polizeigefangenen in Fuhlsbüttel, verfasst auf winzigen Zigarettenpapierchen und versteckt in einer Taschenuhr, oder ein Blumentagebuch als Kommunikationsform mit dem gemütskranken Komponisten Robert Schumann.

Auch Übergangsformen zwischen Tagebuch und Weblog finden ihren Platz: So etwa die Online-Beiträge von Andrea Diener, die als Tagebuch begannen und als ein Blog endeten, in dem der Rhythmus des Tages zugunsten der Betonung der einzelnen Texte zurücktritt. Oder Schriftzeugnisse von Rainald Götz, der sich bereits Ende der 90er-Jahre die Frage stellte, in welchem Medium und welcher Gattung Gegenwart darstellbar ist und verschriftlicht werden kann. Die Vielfalt der Exponate zeigt das Tagebuch in seinem ganzen Facettenreichtum und, wie dem Besucher durch die Wahl der ausgestellten Objekte geschickt verdeutlicht wird, seiner Relevanz für das menschliche Selbstverständnis.

Immer wieder zeigen sich Parallelen zwischen der Papier- und Online-Form des Tagebuchs: Bei aller überbordenden Fülle der schriftlichen Exponate, ob nun getippt, getwittert oder aufgezeichnet, als Instrument der Selbstformung, tragbares Stück Heimat auf Reisen oder vielem mehr, steht, und das ist erfreulich, im Zentrum der Ausstellung doch deutlich der Mensch. Als Schauplatz des ewigen Kampfes zwischen seinen Bedürfnissen nach Selbstentblößung und nach Geheimhaltung, nach Flüstern und Schreien, Selbsterkenntnis und Selbstverleugnung. Mit zwei Worten und zwei Zeichen ausgedrückt also "absolut privat!?".

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