Ausstellung zu NS-Rassenforschung: „In Fleischhackers Händen“

Der Tübinger Uni-Professor Fleischhacker betrieb zur NS-Zeit Rassenforschung. Belangt wurde er nie und machte nach dem Krieg Karriere.

„Regelmäßig auftauchende Linien zeichnete er mit Bleistift nach.“ Bild: Universität Tübingen

TÜBINGEN taz | An den Wänden eines dunklen Raums hängen 309 Blätter mit schwarzen Handabdrücken. Ein Abdruck neben dem anderen. Von hinten beleuchtet. Krumme Finger, von Falten durchfurcht – die könnten von einem arbeitsamen Leben auf dem Feld und im Stall zeugen; feinadrige Jungenhände von der Freude des Klavierspiels berichten; Männerpranken vom Leben als Handwerker. Man weiß es nicht.

Die Menschen, denen die Handabdrücke gehören, leben nicht mehr. Sie wurden im Holocaust umgebracht oder sind still gestorben in der langen Zeit des Schweigens nach Kriegsende.

1943 hat der Anthropologe an der Universität Tübingen, Hans Fleischhacker, die Handabdrücke dazu verwendet, Handlinienmuster von Juden zu untersuchen. Sein Ergebnis: eine „rassische Sonderstellung“ von Juden sei „klar erwiesen“. Die Sonderstellung war damals ein Argument für die gezielte Vernichtung.

Die Universität Tübingen hat die Handabdrücke 2009 durch Zufall wiederentdeckt und sie zum Anlass genommen, einen weiteren Teil ihrer NS-Geschichte aufzuarbeiten. Die Ausstellung „In Fleischhackers Händen“ im Schloss Hohentübingen regt zur Reflexion über die politische Opportunität, Ethik und Verantwortung der Wissenschaft an.

Kein Karriereschaden

Urban Wiesing, Direktor des Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, sitzt in seinem Büro – Perserteppiche, ein historischer Globus, L-förmiger Schreibtisch. Er hat als einer der Ersten vom zufälligen Fund der Handabdrücke erfahren. „Die Humangenetiker wollten ausmisten“, erinnert er sich. Albrecht Hirschmüller, ein inzwischen pensionierter Kollege, sei eingeschritten und habe die Sammlung zunächst Wiesing gezeigt. Wiesing sagt: „Mir war sofort klar: Die müssen ausgestellt werden. Die haben eine Aura. Die erschlagen einen.“

Die Handabdrücke sind für den Medizinhistoriker Dokumente, die das unheilvolle Zusammenspiel kühler, technischer Wissenschaft mit persönlichen Schicksalen der NS-Opfer zeigen. Er hat mit seinem Team die Ausstellung „In Fleischhackers Händen“ erarbeitet. Einer der schockierendsten Fakten der Ausstellung: Hans Fleischhackers Karriere hatte durch seine Rassenforschung im Namen der Nazis keinen Schaden genommen. 1977 wurde er mit einem Professorentitel der Universität Frankfurt emeritiert.

Für Wiesing ein bis heute unverständlicher Vorgang: „Wie konnte die Elite einer renommierten Uni so sang- und klanglos den Mantel der Zivilisation abstreifen, danach vermeintlich wieder überstreifen und so tun, als wäre nichts geschehen?“

Häufig auftauchende Muster nachgezeichnet

Hans Fleischhacker war ein Mann mit dichtem dunklem Haar, das er nach hinten gelegt trug, und Augenbrauen wie Balken auf der Stirn. Fotografien zeigen ihn mit Fliege und Weste oder mit Krawatte. Der Anthropologe war von 1937 bis 1945 als wissenschaftlicher Assistent am rassenkundlichen Institut der Universität Tübingen beschäftigt. Zeitweise war er an das rassenpolitische Amt der NSDAP abgeordnet. Zu Kriegsbeginn arbeitete er im polnischen Lodz in der Außenstelle des Rasse- und Siedlungsamtes der SS, die er eine Zeit lang sogar leitete.

Seine Forschung zu den Handabdrücken von Menschen jüdischen Glaubens nimmt ihren Anfang im Januar 1940. Zwei Wissenschaftlerinnen, Hella Pöch (Wien) und Sophie Erhardt (Tübingen), sammeln die Handabdrücke von Juden im Auftrag des Reichsgesundheitsamtes in Lodz. In Tübingen analysiert Fleischhacker die Abdrücke. Regelmäßig auftauchende Muster zeichnet er mit Bleistift nach. Mit seinem Fazit von der „Sonderstellung“ von Juden untermauerte er die Nazi-Ideologie.

Kurz darauf macht sich Fleischhacker an ein neues grausames Projekt. Er reist nach Auschwitz, nimmt rassenanthropologische Untersuchungen an Häftlingen vor. Er selektiert eine Gruppe, um eine „jüdische Skelettsammlung“ anzulegen. Die Menschen werden anschließend im Konzentrationslager Natzweiler (Elsass) umgebracht.

Nach Kriegsende wird Fleischhacker auf Drängen der französischen Besatzungsmacht von der Uni Tübingen entlassen. Er arbeitet als Angestellter in der Regionalregierung Süd-Württemberg-Hohenzollern, fasst aber 1950 wieder Tritt im Wissenschaftsbetrieb. 1960 kehrt er als wissenschaftlicher Assistent sogar noch einmal für ein Jahr an die Universität Tübingen und an sein einstiges rassenkundliches Institut zurück, welches nun Institut für Anthropologie heißt. 1961 folgt er dem Ruf nach Frankfurt.

Selektion in Auschwitz

Die NS-Zeit fügt sich in Fleischhackers Karriere ein, geschadet hat sie ihr nicht. Die Aufarbeitung passiert viel zu spät, um Folgen für ihn zu haben. Fleischhacker hat seine Verantwortung sein Leben lang geleugnet. Wegen der Selektion der Häftlinge in Auschwitz mit der Absicht, eine Skelettsammlung anzulegen, war er 1968 angeklagt und wurde freigesprochen.

An der Universität Tübingen beginnt die Aufarbeitung erst Jahre später, 1977. Laut dem Historiker Christof Dipper aus Darmstadt gilt der Tübinger Vorstoß von damals als „die erste kritische Selbsterforschung einer Universität“.

Im Jahre 2003 wird der Arbeitskreis „Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus“ gegründet, sieben Jahre später erscheint ein Buch, das auf über tausend Seiten systematisch die Geschichte der Fakultäten während der Nazi-Herrschaft analysiert. Wiesing spricht von der am besten untersuchten Zeit der Tübinger Universitätsgeschichte.

„In Fleischhackers Händen“ ist bis 28. Juni im Schloss Hohentübingen zu sehen.

„Wir haben gesagt: Entweder forschen wir ohne Grenzen oder wir forschen gar nicht.“ Alle Hierarchieebenen hätten diesen Ansatz mitgetragen. Wiesing sagt: „Die persönlichen Bande müssen gekappt sein. Wer involviert war oder wessen Lehrer involviert war, der machte sich nicht an das Thema ran. Diese Zeiten sind vorbei.“ Wiesing kannte noch Wissenschaftler, die involviert gewesen sein könnten. Er hat sie aber nie befragt. In seinem Medizinstudium habe die NS-Vergangenheit keine Rolle gespielt. „Wir haben damals nicht darüber nachgedacht.“

Plädoyer für eine unabhängige Wissenschaft

Die Aufarbeitung war ein Akt später Gerechtigkeit: Wem die Dissertation von der Universität Tübingen aus politischen Gründen aberkannt worden war, etwa weil er Demokrat oder Jude war, dem wurde der Titel 2003 zurückgegeben. Für viele kam das spät. „Das war Symbolik“, sagt Wiesing. Ihm sei kein Betroffener bekannt, der diesen Schritt noch miterlebt hat.

Dennoch ist die aktuelle Ausstellung wichtig als Plädoyer für Widerspenstigkeit und Unabhängigkeit der Forschung. Die Ausstellung „In Fleischhackers Händen“ führt die Monstrosität vor Augen, die Wissenschaft im Namen einer Ideologie erreichen kann. „Wir wollen zeigen, dass die Wissenschaftler von damals keine Spinner waren“, sagt Wiesing. Sie hätten mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium ihrer Zeit konsequent gearbeitet und sich und ihre Arbeit dabei in den Dienst der Diktatur gestellt.

Die gedruckte Arbeit von Fleischhacker zu den Handlinien wurde während der Recherchen zur Ausstellung im Naturhistorischen Museum Wien wiederentdeckt. Wiesing will Kopien erstellen lassen. „Das muss in unsere Bibliothek. So rassistisch der Inhalt ist, das ist unsere Geschichte. Davor können wir uns nicht drücken.“

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