Ausstellung Waisenhäuser: "Kinder, Krätze, Karitas"
Eine Ausstellung in Halle zeichnet die Geschichte von Kinderheimen und Pädagogik in der frühen Neuzeit nach, klammert aber die NS-Zeit, die DDR und die BRD der 50er und 60er Jahre aus.
Sie heißen Kevin und Lea-Sophie, Jacqueline und Leon. Vor wenigen Tagen kam noch Sarah hinzu, aus Thalmässing in Mittelfranken - fünf Kinder von vielen, die in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik gestorben sind, weil sie von ihren Eltern vernachlässigt wurden. Die meisten von ihnen würden wohl noch leben, wären sie rechtzeitig in ein Heim gekommen.
Momentan arbeitet die deutsche Gesellschaft erst die Skandale der Heimerziehung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf, all die Misshandlungen, die damals geschahen. Frühere Heimkinder fordern 25 Milliarden Euro als Entschädigung für das Leid, das ihnen angetan wurde.
Die Betroffenen-Vereine gehen von 500.000 bis 800.000 missbrauchten Kindern in solchen Heimen aus. Unter Vorsitz der Politikerin Antje Vollmer (Die Grünen) sucht ein "Runder Tisch Heimerziehung" seit ein paar Wochen nach Möglichkeiten der Kompensation für das angetane Leid.
Die Ausstellung "Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit" in den Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale) am Franckeplatz ist noch bis zum 4. Oktober 2009 zu sehen.
Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag und feiertags, von 10.00 bis 17.00 Uhr. Der Eintritt beträgt 6 Euro, ermäßigt 4 Euro.
Empfehlenswert ist auch der aufwändig bebilderte und mit zusätzlichen Texten versehene Katalog zur Ausstellung: Claus Veltmann/Jochen Birkenmeier, "Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Neuzeit". Verlag der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale). 2009, 223 S., 24 €
Die Schicksale von elternlosen, vernachlässigten oder schlicht armen Kindern sind längst kein Randthema mehr - umso mehr überrascht, dass eine Ausstellung zum Thema in Halle (Saale) bisher so wenig öffentliche Beobachtung fand. Denn die Schau mit dem Titel "Kinder, Krätze, Karitas" wäre eine gute Grundlage für eine intensive Debatte darüber, wie wir mit den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft umgehen. Und was wir dabei aus der Geschichte gegebenenfalls lernen könnten.
Schon der Ort der Ausstellung könnte nicht passender sein. Die "Franckeschen Stiftungen", ein jahrhundertelang betriebenes Waisenhaus von der Größe eines ganzes Stadtviertels. Eine symbolträchtigere Stelle findet sich angesichts der lange vorbildhaften Funktion dieses Hauses in Deutschland und Europa nicht.
Nun deckt die Ausstellung lediglich "Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit" ab, also etwa den Zeitraum zwischen 1500 und 1800. Dennoch wirkt vieles an den so alten Debatten über das Wohl der Kinder noch heute aktuell, etwa die Diskussion während der Aufklärung, ob Waisen nicht besser in Pflegefamilien untergebracht werden sollten statt in Heimen. In den Heimen der Frühen Neuzeit wurden auch Verstoßene, Findlinge oder völlig verarmte Kinder aufgenommen, "Sozialwaisen", wie sie später genannt wurden.
Erwartbar, gleichwohl interessant ist, wie sich in den Waisenhäusern von Beginn an die jeweiligen Ideologien und Grundprinzipien der Zeitläufte bis zum Beginn der Moderne spiegeln. So ist es wohl als Fortschritt zu benennen, wenn die Reformation und namentlich Martin Luther eine Sozialpolitik für die Waisen einforderte. Die düstere Seite jener Politik ist jedoch, dass der Reformator zugleich das Betteln verbot. Und dass sich eine neue, kältere Einstellung in der Gesellschaft breitmachte, die unser Denken noch heute prägt, nämlich die Unterscheidung zwischen unverschuldeter und selbst verschuldeter Armut.
Unterbringung mit Zwang
So verwundert es nicht, dass Kinder in Folge der überall anzutreffenden Sozialdisziplinierung während der Frühen Neuzeit auch zwangsweise in Waisenhäuser gebracht wurden - um sie vor "Verwahrlosung" zu bewahren, wie es hieß. Dazu passt etwa das Exponat eines "Pritschholzes", eines Prügels aus dem 15. Jahrhundert, Sinnbild für die meist gewaltsame Erziehung in den Waisenhäusern. Allerdings muss man daran erinnern, dass Gewalt als Mittel der Pädagogik damals auch außerhalb der Waisenhäuser üblich war. Eine gewaltlose Erziehung ist noch ein ziemlich junges Ideal.
Das Schicksal der Waisen war (und ist) hart, das zeigt die Ausstellung eindrücklich. So hält etwa das Kinderbuch des Hamburger Waisenhauses von 1616-1636 fest, dass von den 79 im ersten Jahr aufgenommenen Kindern 16 aus dem Heim oder später von ihren Lehrherren flohen. Bezeichnend auch, dass es immer wieder Versuche gab, mit Waisen, schön kapitalistisch und zeitadäquat, ordentliches Geld zu verdienen. So wurde, als ein Beispiel von vielen, 1767 im Pforzheimer Waisenhaus eine Uhren- und Schmuckmanufaktur eingerichtet. Sie soll übrigens der Grundstein für die noch heute bestehende Uhren- und Schmuckindustrie in Pforzheim sein.
Die Leitung eines Waisenhauses war gerade in den niederländischen Heimen des "Goldenen Zeitalters" durchaus eine Aufgabe, mit der einiges an sozialem Renommee zu gewinnen war. Die Schau zeigt mehrere Bilder calvinistisch geprägter, würdiger Bürger in schwarzem edlem Tuch - es sind die Herren der Heime, die so ihre Wohltätigkeit herausstellten. Auch dies gleicht einem Missbrauch und der Ausbeutung der Kinder für fremde Zwecke.
Natürlich ließ sich mit Waisenhäusern zudem über Jahrhunderte auch Kasse machen, und zwar vor allem dann, wenn man an der Verpflegung, der Ausstattung, der Bekleidung, der Hygiene und der Bildung der Kinder sparte. Zwar gab es immer wieder, wie die Ausstellung zeigt, staatliche und städtische Versuche, solche Auswüchse zu bekämpfen. Verhindern aber konnte man sie nie - auch im Waisenhaus blieben die Kinder schutzlos, wenn ihre Leitung versagte.
Dass die Ausstellung etwas zu nachdrücklich und breit in diesem ehemaligen Waisenhaus der Superlative das Vorbildhafte der "Franckeschen Stiftungen" bei der Waisenfürsorge vor allem in Sachen Bildung der Kinder betont - geschenkt. Dieser Versuchung konnten die Ausstellungsmacher offenbar nicht widerstehen.
Zwiespalt Pflegefamilie
Berichte über misshandelte und verwahrloste Kinder sowie über die hohen Sterblichkeit in vielen Häusern führten schließlich seit der Aufklärung zur Schließung unzähliger Waisenhäuser überall in deutschen Landen. Allerdings mit einem teilweise zwiespältigen Ergebnis, da auch Kinder in nun bevorzugt genutzten Pflegefamilien oft sehr schlecht behandelt wurden.
Hier bricht die Ausstellung eine Lanze für die Heimerziehung. Als Erläuterung von ausgestellten Knochenfunden heißt es etwa: "Die verschiedenen Befunde zeigen, dass die Mangelerscheinungen bereits vor dem Eintritt der Kinder ins Waisenhaus eingetreten waren, die somit dort besser versorgt waren als auf der Straße."
Auch dieser Aspekt könnte vielleicht für unsere heutigen Diskussionen über Adoption, Pflegefamilien und Heimerziehung hilfreich sein. Zur Erinnerung: In Deutschland sind nach Auskunft des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Klaus Hurrelmann rund 80.000 Kinder im Alter bis zu zehn Jahren von Verwahrlosung und extremer Vernachlässigung durch ihre Eltern bedroht.
Im letzten Raum wagt die Ausstellung einen Ausflug ins 20. Jahrhundert. Eine Babyklappe ist zu sehen, Fotos heutiger Heimkinder - aber auch Militärwaisenhäuser, die elternlose Kinder zum Kanonenfutter der Kriege der Erwachsenen erzogen. Wie ein kluger Beobachter der Ausstellung im Besucherbuch zu Recht bemängelte, fehlt hier allerdings ein Verweis auf die Geschichte der Heimerziehung in der NS-Zeit, in der DDR oder eben in der Bundesrepublik der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Warum haben die Ausstellungsmacher ausgerechnet diese Jahrzehnte ausgelassen?
Am Ende der Schau hängen Fotos von der Decke. Es sind Porträts heute lebender Kinder, denen die Ausstellungsmacher je ein Schicksal eines Waisenkindes aus früheren Jahrhunderten als Notiz beistellten, also etwa: "Die Mutter starb, der Vater ist krank und kann das Kind nicht ernähren." Am Anfang des lehrreichen Rundgangs sind Fotos in Schwarz-Weiß zu sehen, am Ende in Farbe.
Dies suggeriert, dass es Kindern in Waisenhäusern heute besser geht als in früheren Jahrhunderten - und nach dem Besuch der Schau darf man vermuten, dass dieser Optimismus auch angebracht ist. Eines der abgebildeten Kinder, ein blondes Mädchen, dessen Eltern, so das Zitat aus den Akten eines Waisenhauses, an der Pest gestorben waren, ist das einzige Kind, das lächelt.
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