Ausstellung „L'invention du sauvage“: Wer ist Ihr Wilder?

Zur Zeit der großen Völkerschauen Ende des 19. Jahrhunderts standen sich Menagerie und Anthropologie näher als es die Wissenschaft wahrhaben will.

Anatomisches Modell der Botoduco-Männer in der Ausstellung „Exhibitions. L’invention du sauvage“ Bild: screenshot youtube

Niemand hat am Anfang des 20. Jahrhunderts vom „global village“ gesprochen. Und doch konnte man im Tierpark Hagenbeck in Hamburg seinerzeit bereits eine gute Vorstellung davon gewinnen, was künftig einmal damit bezeichnet werden sollte. Seit 1900 gehörte die Inselgruppe von West-Samoa als Kolonialbesitz zum Deutschen Reich.

Und nur wenig später kündigte der Hamburger Tierpark an, neben den Gehegen für Löwen und Giraffen auch eine Gruppe „unserer neuen Landsleute“ zu präsentieren. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, wie unproblematisch es tatsächlich noch bis zu den 1920er Jahre gewesen ist, in zoologischen Gärten nicht allein Tiere, sondern auch Menschen als Objekt der Schaulust auszustellen.

Vielleicht muss aber gerade deshalb erstaunen, dass Hagenbecks Plakat die aus Samoa angereisten Fremden nicht einzig als eine weitere exotische Attraktion angekündigte, sondern vielmehr deutlich aussprach, was sie tatsächlich waren: wenn schon nicht Bürger, so doch immerhin Angehörige des Deutschen Reichs. Ob nun gewollt oder nicht: Mit jeder neuen Kolonie wurden die Fremden ein wenig weniger fremd und rückte das andere Ende der Welt näher an Europa heran.

Weltausstellung Paris 1889

Wie verschlungen diese sich um die ganze Welt spannenden Beziehungsgeflechte seit der frühen Moderne tatsächlich gewesen sind, stellt auf eindrucksvolle Weise eine Ausstellung vor Augen, die zur Zeit im Musée du quai Branly in Paris zu sehen ist. Nur wenige Schritte vom Eiffelturm entfernt, ist dieses Museum zugleich in doppeltem Sinn der ideale Ort für eine solche Ausstellung. Zum einen ist dieses Haus der Stein gewordene Ausdruck, dass es am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr genügt, im Museum exklusiv die westliche Kunst- und Kulturgeschichte zu feiern.

Dass die hierzu formulierte Antithese am quai Branly indes ganz und gar europäischen Vorstellungen von den „Arts premiers“ folgt, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Zum Zweiten aber errichtete Jean Nouvel vor sechs Jahren seinen Museumsneubau gerade an jenem Ort, der 1889 Teil der Pariser „Exposition universelle“ war, die als ein großes, sechs Monate dauerndes Volksfest in die Geschichte der Weltausstellungen eingehen sollte.

Wie sehr dieses Volksfest tatsächlich aber ein Fest vieler Völker war, zeigt die Pariser Ausstellung „Exhibitions. L’invention du sauvage“. Die von Frankreich rund um den nagelneuen Eiffelturm inszenierte Jahrhundertfeier der Französischen Revolution hatte die Absage der meisten europäischen Staaten zur Folge – beinahe alle waren ja noch Monarchien. Umso mehr Platz war daher frei für Pavillons aus Vietnam, Marokko oder Mexiko.

Und mit ihnen zogen hunderte exotischer Fremder in die Stadt, deren Aufgabe es war, das eigene Leben in folkloristischer Abkürzung an der Seine einen Sommer lang zur Aufführung zu bringen. Exotismus als Anlass der Belustigung und des Vergnügens – der erste Teil der Ausstellung am Quai Branly entfaltet in aller Ausführlichkeit, wie tief eine solche Idee tatsächlich in der europäischen Geschichte wurzelt. Bereits Kolumbus hatte nicht vergessen, auf seiner Fahrt zurück von Amerika sechs „Indianer“ mitzubringen, um sie am spanischen Hof als stumme Zeugen einer wirklich spektakulären Nachricht vorführen zu können.

Die Venus geht in die Geschichte ein

Seither kam kaum ein europäischer Hof von einiger Größe ohne das staunenswert Fremde in seinen eigenen Kreisen aus. Und bereits lange vor Einrichtung der Anthropologie als einer wissenschaftlichen Disziplin konnte man um 1810 für mehr als fünf Jahre in London und Paris die aus Südafrika stammende Saartje Baartman bestaunen, die aufgrund ihrer bemerkenswerten Körperfülle wie eine Attraktion herumgereicht wurde und als „Hottentotten-Venus“ in die Geschichte einging.

Doch ist es kein kleiner Bruch, der sich zwischen diesem kollektiven Voyeurismus vom Beginn des 19. Jahrhunderts und der Pariser Weltausstellung von 1889 ereignete: Die abnorme Ausnahme ist in moderner Zeit nur noch am Rand von Interesse.

Das vermeintlich Typische

Zum spektakulären Ereignis gerät die Menschenschau in neuerer Zeit gerade dann, wenn sie das vermeintlich Typische möglichst anschaulich vor Augen stellen kann. Besonders erfolgreich hat William F. Cody, besser bekannt als Buffalo Bill, hieraus ein ganzes Geschäftsprinzip gemacht: Die Wirkung seiner Wild-West-Shows auf das Bild vom „Indianer“ und dessen Verhältnis zur westlichen Zivilisation dürfte sich kaum überschätzen lassen. Und natürlich war Buffalo Bills Show auch 1889 in Paris mit von der Partie.

Die Ausstellung im Musée du quai Branly ist eine begehbare Studie geworden über die Herausbildung westlicher Klischees gegenüber dem Fremden. Diese waren stets beides zugleich: Anlass zum Staunen und zum Gruseln, zur Neugier und zur Furcht. Immerhin aber war das Spektakel der Unterschiede attraktiv genug, um in Form von Wanderausstellungen und Varieté-Shows auch über den Tag hinaus für mehrere Jahrzehnte sein Publikum zu finden.

Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg stand hier Modell: Shows wie die „Wilden Weiber aus Dahomey“ inszenierten nicht einfach nur mit aufwändigen Mitteln ein Bild vom unbekannten Anderen. Die Revue-Spektakel gaben überhaupt erst den Anlass, ein Bild vom wilden Fremden zu erfinden und gegenüber einem zahlenden Publikum durchzusetzen.

Wie entscheidend schließlich die Theaterbühne der Völkerschau für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den außereuropäischen Völkern für lange Zeit geworden ist, wird in Paris leider nur all zu kurz angesprochen. Menagerie und Anthropologie standen sich jedenfalls viel näher, als die um Wissenschaftlichkeit bemühten Völkerkunde um 1900 eingestanden haben würde.

Der Sinn hinter den Klischees

Aber vielleicht ist ja gerade dies der eigentliche Sinn jedes Klischees: sich als solches nicht ohne Weiteres zu erkennen zu geben, um hierdurch umso größere Wirkung entfalten zu können. Es wird indes auch heute niemand glauben könne, davon frei zu sein: Der französische Videokünstler Vincent Elka verabschiedet jeden einzelnen Besucher ganz am Ende der Ausstellung mit einer scheinbar einfachen Frage: „Qui est votre sauvage? – Wer ist Ihr Wilder?“

Auf zwei großen Videoschirmen fragen dies Schwarze und Asiaten, Rollstuhlfahrer und Blinde, Moslems, Obdachlose, Schwule und Lesben. Sie alle erinnern daran, dass jede Zeit ihre eigenen Fremden erfindet.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.