: Ausnahmezustand über Algier verhängt
■ Streikende Arbeiter fordern Lohnerhöhung und bessere Versorgung mit Konsumgütern / Verwaltungs- und Sicherheitsbehörden unter Militärkommando
Algier (ap/afp/dpa) - Nach dreitägigen Protesten gegen zu hohe Lebensmittelpreise hat die algerische Regierung gestern den Ausnahmezustand über die Hauptstadt verhängt. Staatspräsident Chadli Benjedid gab nach einer Sondersitzung des Kabinetts mit Partei- und Gewerkschaftsführern bekannt, alle Verwaltungs- und Sicherheitsbehörden stünden ab sofort unter militärischem Kommando. Vor dem Sitz des algerischen Rundfunks, dem Parlament, am Busbahnhof und am Hafen zogen Soldaten in Kampfanzügen und mit Gewehren auf. Damit wurden zum ersten Mal seit dem Staatsstreich 1963 Soldaten in Algier stationiert.
Die weiterbildenden Schulen und Universitäten wurden auf Anordnung des Innenministeriums geschlossen. Auch alle Sportveranstaltungen des islamischen Wochenendes, das gestern begann, wurden abgesagt und jede Versammlung verboten. Die Proteste hatten am Dienstag in der Kasba, der Altstadt von Algier, begonnen und sich auf die Haupteinkaufsstraßen im Zentrum ausgedehnt. Mehrere Hundert meist jugendliche Demonstranten hatten am Mittwoch Schaufensterscheiben eingeworfen, Barrikaden errichtet, mehrere Regierungsgebäude und Büros von Fluggesellschaften angegriffen. Die Polizei, die sich zunächst zurückhielt, griff am späten Nachmittag massiv ein, drängte die Demonstranten in die Seitenstraßen ab und nahm viele Personen, darunter auch Unbeteiligte, fest. Es soll mehrere Verletzte gegeben haben.
Der Ausnahmezustand wurde verhängt, nachdem es gestern zu erneuten Demonstrationen, unter anderem in der Nähe der Universität, gekommen war. Offenbar befürchtete die Regierung ein weiteres Anwachsen der Proteste, die eine Reaktion auf die Sparpolitik und den ständig sinkenden Lebensstandard sind. Ein Kilogramm Rindfleisch kostet beispielsweise umgerechnet 45 Mark, ein Liter Wasser zwei Mark. Die Inflation liegt bei 15 Prozent.
Die ersten Proteste gegen den niedrigen Lebensstandard hatten vor zwei Wochen mit Streiks in den wichtigsten Industriezentren außerhalb von Algier begonnen. Mittlerweile machte die Regierung den Streikenden Zugeständnisse. Zusätzlich zur regulären dreiprozentigen Steigerung wurden die Gehälter im öffentlichen Dienst noch am Mittwoch um 15 Dinar (30 Mark) erhöht. Gestern nahm der staatstreue Gewerkschaftsverband UGTA Verhandlungen mit den privaten Arbeitgebern auf. Die UGTA bezeichnete den Groll der Streikenden als berechtigt, warnte jedoch zugleich vor Ausschreitungen.
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