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Ausnahmezustand in der TürkeiDer Albtraum will nicht enden

Seit dem Putschversuch regiert die AKP per Dekret und greift in alle Lebensbereiche ein. Nun verlängert sie den Ausnahmezustand zum sechsten Mal.

Foto: Lena Ziyal

Fünf Tage nach dem Putschversuch, am 20. Juli 2016, verhängte die türkische Regierung den Ausnahmezustand, der mittlerweile sechs Mal für jeweils drei Monate verlängert wurde. In den vergangenen 18 Monaten erließ der an Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gebundene Ministerrat 30 Notstanddekrete mit insgesamt 1.194 Paragraphen.

Die Regierung setzt, legitimiert durch den Ausnahmezustand, willkürlich Regelungen durch, gegen die in der Gesellschaft Widerstand herrscht. In zahlreichen Bereichen, von Bildung bis Gesundheit, von Umweltschutz bis nationaler Sicherheit, wurden Verordnungen erzwungen; Verfassung und Parlament mit Dekreten de facto außer Kraft gesetzt.

Die Dekrete hebeln die legislativen Organe aus und erlauben Erdoğan und der ihm verpflichteten Regierung, das Land willkürlich zu lenken. In Absatz 15 der auch von der Türkei unterzeichneten Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es, Notstand könne nicht auf Vermutung und Annahmen hin ausgerufen werden, für seine Verhängung sei notwendig, dass eine Gefahr bestehe oder unmittelbar drohe.

Nationale Sicherheit als Vorwand

Erk Acarer

1972 geborener Journalist. Nach Tätigkeiten für die Tageszeitungen Milliyet, Sabah und Cumhuriyet begann er als Reporter für die 'Zeitung Birgün zu arbeiten, wo er noch heute tätig ist. Acarer gewann 2016 den renommierten Metin Göktepe Journalistenpreis und 2017 den Preis für unabhängige Journalisten.

Die türkische Regierung begründet die Verlängerung des Ausnahmezustands mit der nationalen Sicherheit. Anfänglich gab es Verordnungen in diesem Bereich, doch inzwischen wurden Dekrete und Maßnahmen durchgesetzt, die rein gar nichts mit dem Putschversuch zu tun haben.

Oppositionsparteien wie die kemalistische CHP und die prokurdische HDP sowie NGOs und Anwaltskammern protestieren dagegen. Bülent Tezcan, Vize und Sprecher der CHP, sagte auf der Vorstandssitzung seiner Partei am 25. Dezember 2017, die Erdoğan-Regierung habe sich daran gewöhnt, die Türkei mit Dekreten zu regieren: „Die durch den Putsch entstandenen Möglichkeiten haben diese Regierung putschabhängig gemacht. Seit 17 Monaten werden mit den Dekreten auf politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Ebene Maßnahmen durchgesetzt, die nichts mit dem Ausnahmezustand zu tun haben. Das Parlament wurde ausgesetzt.“

Tatsächlich umfassen die Dekrete ein breites Spektrum. Grundrechte und –freiheiten wurden verletzt. Abgeordnete, JournalistInnen, AnwältInnen wurden verhaftet, Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt, Medien verboten. Angestellten im öffentlichen Dienst und HochschuldozentInnen wurden über Nacht gefeuert, ihre Familien der Armut preisgegeben. Eigentum von privaten Unternehmen und geschlossenen Vereinen wurde beschlagnahmt und öffentlicher Grund mit vorschriftswidrigen Umweltverordnungen der Rendite geöffnet.

Die Türkei ist nicht Frankreich

Im Zuge des Ausnahmezustands erhöhte sich auch die Gewalt gegen Frauen und LGBTQ-Menschen, in den kurdischen Gebieten führten die Dekrete zu Deportation, Enteignung und Zerstörung. Auch gibt es wieder Folter.

Angesichts der Kritik verteidigt Staatspräsident Erdoğan die Maßnahmen damit, dass auch in Frankreich Ausnahmezustand herrsche. Auf dem Workshop am 5. Januar in Ankara „Schluss mit dem Ausnahmezustand“ verwies die Menschenrechtsanwältin Duygu Köksal auf grundlegende Unterschiede der Praxis in beiden Ländern.

In Frankreich wird der Ausnahmezustand vom Verfassungsgericht kontrolliert. Diese Instanz hat sechs von neun im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Gesetze kassiert. In der Türkei werden die Dekrete nicht durch das Verfassungsgericht kontrolliert, das ohnehin seiner Funktion beraubt ist. Nur vier von 30 Dekreten passierten das Parlament. Die meisten Dekrete werden umgesetzt, bevor sie durch das Parlament verabschiedet werden.

So zum Beispiel Dekret 696 vom 24. Dezember. Die Regelung der „Einheitskleidung“ für Terrorverdächtige kam zwar nicht ins Parlament, die Einheitskleidung aber in die Haftanstalten. Am Mittwoch erklärte Gökmen Yeşil, Istanbul-Vorsitzende des Verbands Zeitgenössischer Rechtsanwälte, im Gefängnis von Silivri werde mit Gewalt versucht, die Häftlinge in die Einheitskleidung zu stecken.

Wegbereiter für Bürgerkrieg

Das Dekret 696 beinhaltet auch die Anordnung, dass an der Niederschlagung des Putschversuchs vom 15. Juli und Folgeaktionen beteiligte ZivilistInnen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Das Dekret, eine Warnung an die Opposition, wurde von breiten Teilen der Bevölkerung als Wegbereiter für einen Bürgerkrieg gewertet. Trotz öffentlicher Kritik erklärte Premier Binali Yıldırım, der entsprechende Absatz werde nicht zurückgenommen.

Einen besonderen Stellenwert haben bei der Verabschiedung von Notstandsdekreten die Bereiche Verteidigung und Polizei. Seit dem Putsch kam es in der Armee zu massenhaften Entlassungen. Mit Dekret 669 wurden Luftwaffe, Marine und Landstreitkräfte dem Verteidigungsministerium unterstellt, Staatspräsident und Premierminister erhielten unmittelbare Befehlsgewalt gegenüber den jeweiligen Oberkommandierenden. Mit Dekret 694 wurde auch der Geheimdienst MIT dem Erdoğan-Regime direkt unterstellt.

Der Umsturzversuch der Gülen-Terrororganisation wurde für eine Hexenjagd auf DissidentInnen und Intellektuelle missbraucht. Mit den bisher erlassenen Dekreten wurden an 117 Universitäten 5.822 WissenschaftlerInnen entlassen, 386 von ihnen, weil sie den Appell AkademikerInnen für den Frieden unterzeichnet hatten. Vielen wurde der Pass entzogen und ihre Ausreise verhindert.

Was hat die Umsiedlung einer Stadt mit Sicherheit zu tun?

Neben 2.271 per Dekret geschlossenen privaten Bildungseinrichtungen wurden auch 146 Stiftungen, 1.427 Vereine, 15 von Stiftungen betriebene Hochschuleinrichtungen und 19 Gewerkschaften aufgelöst. Darunter auch der mit Dekret 677 verbotene Kinderverein Gündem, in dessen Gründungszielen es heißt, man wolle einen Beitrag dazu leisten, dass „Kinder ihr Leben als gleichberechtigte und freie Individuen in Würde“ führen können. Vereinsmitglied Ezgi Koman sagt: „Die Situation unterscheidet sich nicht von den Repressalien gegen JournalistInnen und AkademikerInnen.“

Dekret 696 ermöglicht die Umsiedlung der Kreisstadt Gemlik/Bursa mit seinen 107.000 EinwohnerInnen „wegen Erdbebengefahr“ in die nahe gelegenen Olivenanbaugebiete, ein Verstoß gegen das Olivengesetz. In Ölbaumplantagen zu bauen ist verboten, doch mit dem Dekret wurde das Gesetz ausgesetzt. Der CHP-Abgeordnete von Balıkesir Mehmet Tüm protestierte gegen das Dekret: „Was hat denn die Umsiedlung einer Kreisstadt mit dem Anti-Terror-Kampf zu tun? Mit dieser Maßnahme werden die Olivenplantagen der Rendite geöffnet, was die Regierung auf normalem Weg nicht tun kann, tut sie per Dekret.“

Das 2014 vom Verfassungsgericht abgeschaffte Streikverbot im innerstädtischen öffentlichen Nahverkehr und im Bankwesen wurde mit dem Dekret 678 de facto wieder eingesetzt und somit Arbeiterrechte beeinträchtigt. In einer an ausländische Investoren gerichteten Rede im Juli 2017 sagte Erdoğan: „Den Ausnahmezustand verhängen wir, damit unsere Wirtschaftswelt besser funktioniert. Wo die Gefahr von Streiks droht, nutzen wir den Ausnahmezustand, um unverzüglich einzugreifen.“

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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