piwik no script img

Ausgelassene Hunde im Obstsaft

■ „Die Wüste lebt“: Nicolas Stemanns quicklebendige Mythen-Umkreisung „Antigonegone“in den Hamburger Kammerspielen

Antigone lebt. Jedenfalls im deutschen Theater. Das bewies einmal mehr Nicolas Stemanns quicklebendige Umkreisung des antiken Stoffs nach Sophokles und Hölderlin. Und das bewiesen auch die Wächter in Antigonegone. Bevor sie die wehklagende Widerständische in ihre Grabstätte hinabführten, zeigten sie ihr stapelweise Theaterkritiken von heute. So durfte sich die zum Tode Verurteilte noch wie ein Kind über ihre posthume Popularität erfreuen.

Aber hat Antigone als Symbolfigur des Widerstands über den Theatertellerrand hinaus noch eine Bedeutung? Mit ständigen ironischen Brüchen beantwortete der Hamburger Regisseur Nicolas Stemann, dessen Stück Antigonegone den Auftakt zum Nachwuchsfestival Die Wüste lebt bildete, diese Frage auf eigenwillige und überzeugende Art. Seine drei bis vier jungen Darsteller (der Pianist mischte auch schon mal mit) changierten gekonnt zwischen der tragischen Vorlage und komischen Einfällen. Rezitierten sie eben noch ganz ernsthaft Sophokles, frönten sie einen Augenblick später dem Spaßgott Bacchus. Ausgelassen rissen sie sich gegenseitig die T-Shirts vom Leib, tollten wie junge Hunde herum und rieben sich mit klebrigem Melonensaft ein.

Ismene, die bedächtige Schwester Antigones, trat sogar doppelt und dreifach in männlicher Gestalt als erdrückende Übermacht des vermeintlich Vernünftigen auf. Selbst Antigones flammende Anklagerede gegen Thebens Herrscher Kreon, in der sie ewige Menschenrechte gegen vergängliche Gesetze einfordert, fand nur unaufmerksame Zuhörer auf der Bühne. Statt einer Widerrede zogen die Männer ihre Wut als Therapiefall ins Lächerliche.

Mit beißendem Spott überzog Stemann auch Mitläufer und selbsternannte Widerstandskämpfer. Zu Melodien wie „Bridge Over Troubled Water“und Sirtaki-Klängen ließ er die enorm wandlungsfähigen Schauspieler als tapfere Friedensbewegte das Gedicht „Sag nein“von Wolfgang Borchert aufsagen und tausend Teelichter erglimmen. Zwischen Klamauk, Satire und Tragödie zieht Antigonegone ein böses Fazit: Antigone lebt zwar, aber sie ist zur bloßen Lachnummer verkommen. Karin Liebe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen