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Ausgehen und rumstehen von Kristof SchreufGeborgen aus dem höchsten Himmel fallen

Vera Kropf hatte aufgehört zu spielen und Jens Friebe noch nicht angefangen. Die Roadies bauten die Bühne im Festsaal Kreuzberg um, und 800 Konzertgäste fanden noch etwas Zeit, um sich zu unterhalten. Es handelte sich dabei durch die Bank um interessante Leute und sympathische Menschen.

In einer der hinteren Reihen beschrieb der Schauspieler Matthias Kelle, wie er als Mitglied des Berliner Theaterkollektivs EGfKA – (Europäische Gemeinschaft für Kulturelle Angelegenheiten) in den nächsten Tagen im Ballhaus Ost untersuchen wird, was mit Zukunftsentwürfen von den Bauernkriegen über die haitianische Revolution bis in unsere Gegenwart passiert, wenn das Kollektiv sie aus dem Museum der Geschichte holt und in Bühnenlicht taucht.

Ein paar Reihen weiter vorne schwärmte der Schlagzeuger Sebastian Vogel davon, dass er im Herbst des vergangenen Jahres „eine der schönsten Touren meines Lebens“ mit der wieder zusammengekommenen Band Britta erlebt habe. Neben ihm stand Swantje Schneider, DJ und Inhaberin eines Friseursalons in der Torstraße, die mit dem Besuch von Jens Friebes Konzert feierte, dass sie den Kampf gegen ihre Höhenangst aufgenommen hat. Diese Angst, erzählte Schneider, hatte sich vor einer Weile schon auf Spreebrücken zur Furcht gesteigert. Darauf entschloss sie sich, den Stier bei den Hörnern zu packen, indem sie in ein Flugzeug kletterte, um sich mit einem Fallschirm rausfallen zu lassen.

Je weiter die Maschine stieg, sagte Schneider, desto sicherer kam sie sich vor. Als sie in 4.000 Metern absprang, fühlte sie sich geborgen. Das blieb fast den ganzen Flug nach unten über so, sagte Schneider, bis das alte, hässliche Gefühl wenige Meter über dem Boden doch noch einmal kurz zu ihr zurückkehrte wie ein viel zu treuer Hund.

Ein paar Minuten nach Schneiders Erzählung schaffte es Jens Friebe, mit den Songs seines neuen Albums „Fuck Penetration“ aus dem Stand 4.000 Meter nach oben zu springen. In der luftigen Höhe brachte er es fertig, um im Bild zu bleiben, sich von gleich zwei Flugzeugen mitnehmen zu lassen.

Das eine ist die englische Sprache, das andere steuert die Hamburger Gitarristin, Keyboarderin und Sängerin Pola Schulten bei. Nun sitzt und steht Chris Imler seit etlichen Jahren als schlagzeugspielender, kongenialer Mitdenker an Friebes Seite, und der bärtige, wie ein Südstaatenrocker wirkende Bassist von Mondo Fumatore beweist Empathie für Friebes Vorhaben. Aber das Ereignis in der Band war Schulten. Sie machte aus den Liedern die sensationellen Songs, als die sie vielleicht auch schon früher geplant waren, denen sich das aber erst jetzt, mit und durch Schultens Stimme, so richtig anhören lässt. Sie zog nach dem Konzert das Fazit, dass dieser Abend im Festsaal einfach „mehr Bock als Angst“ gemacht habe.

Während der Fahrt nach Hause sang eine ältere Dame in der U7 „My heart will go on“. In einer grauen Daunenjacke, mit blauem Kopftuch und einer riesigen Hornbrille auf der Nase, warf sie sich in den aus dem Film „Titanic“ bekannten Schmachtfetzen. Die Mienen der Fahrgäste veränderten sich.

In ihren Gesichtszügen lagen weder peinliche Berührtheit noch Fremdscham. Stattdessen dachten zwischen den Stationen Yorckstraße und Kleistpark wohl ein paar Dutzend Fahrgäste über ihr Leben nach. Wenn Pola Schulten weiter mit Jens Friebe arbeiten sollte, spricht einiges dafür, dass Friebes Songs in absehbarer Zeit von U-Bahn-Fahrgästen gesungen werden.

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