Ausgehen und rumstehen von Andreas Hartmann: Bei diesem Trend werden wir wohl nicht mehr dabei sein
Wir haben was für uns Neues entdeckt: abends vor dem Späti gegenüber rumhängen. Das ist für uns das neue Ausgehen. Man ist dort unter Leuten und an der frischen Luft. Das Bier ist im Vergleich zu den überfüllten Kiezkneipen sensationell billig. Manchmal bringt jemand Musik mit, dann fühlt es sich hier beinahe an wie auf einer Party. Einen Nachhauseweg von zehn Metern zu haben kann auch zum Standortvorteil werden, wenn der Abend mal etwas länger und der Alkoholpegel entsprechend sein sollte.
Inzwischen sind wir eng mit der Belegschaft des Späti und den Stammkunden, die hier weit mehr Zeit verbringen als wir. Morgens zum Beispiel – so weit sind wir noch nicht. Ein wenig fühlt es sich hier so an wie in der Stammkneipe. Es ist immer jemand dort, den man schon kennt, und man erfährt stets das Neueste. Der Späti-Chef, ein kommunistischer Kurde, unterrichtet einen von den neuesten Schweinereien Erdoğans in der Türkei. Und einer seiner Mitarbeiter hält uns auch ungefragt über seinen aktuellen Gesundheitszustand auf dem Laufenden. Ein anderer flirtet dauernd mit mir und macht mir Komplimente, obwohl er wissen dürfte, dass ich nicht schwul bin, was aber irgendwie ganz süß ist.
Vor unserem Späti machen wir dann das, was man im Allgemeinen „Leute beobachten“ nennt. Mit direktem Blick auf das Straßengeschehen lässt sich das nirgendwo sonst so gut machen wie hier. Freitagnacht beispielsweise fiel uns auf, wie viele Typen oben ohne rumrennen. Einfach so, auf der Straße. Im Späti dann natürlich auch. Und dabei sehen sie eigentlich immer passabel bis gut aus. Das fiel deswegen so auf, weil wir am Nachmittag am Badesee waren. Dort hätte man sich bei den meisten Typen gewünscht, sie hätten ihre T-Shirts lieber anbehalten, auch wenn sie sich in Richtung Wasser bewegten.
Oben ohne durch die Stadt, das ist ja inzwischen ein regelrechter Trend, und auch in Berliner Clubs hat sich dieser etabliert. Freilich auch ein ziemlich lookistischer. Wir jedenfalls mussten ernüchtert feststellen, dass wir selbst wohl nie mehr bei diesem Trend mit dabei sein werden. Für diese Erkenntnis reichte ein kurzer Blick auf die eigene Plauze und das Eingeständnis fehlender Disziplin beim Work-out.
Am Sonntagabend kam es dann zu einem dieser magischen Momente, von denen ich jetzt schon einige vor meinem Späti erlebt habe. Plötzlich war da ein Typ, der Gitarre spielte. Aber nicht so, wie man es von den meisten Klampfern gewohnt ist. Sondern klassische Gitarre, kunstfertig und vollkommen. Das ergab dann den totalen Kontrast zu dem, was sich mir am Nachmittag auf der Oberbaumbrücke geboten hatte. Dort, wo einen speziell bei diesen Temperaturen der beißende Geruch von Pisse umweht und schier den Atem nimmt, stand ein Straßenmusiker und spielte einen Song von Neil Young. Ohne Publikum weit und breit. Ein ungemein trauriges Bild.
Zu den Gitarrenklängen vor unserem Späti gesellte sich bald noch das Gebrüll aus dem offenen Fenster eines Nachbarn, das seit einer Weile andauernd zu vernehmen ist. Shit! Fuck! Und so weiter. Keine Ahnung, ob der Typ dauernd mit seiner Freundin telefoniert oder Tourette hat. Aber all die Fucks in Verbindung mit den feingliedrigen Klängen der Gitarre ergaben eine surreale Stimmung der Sonderklasse und machten meinen Späti zum spannendsten Ort Berlins.
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