Ausgehen und rumstehen Von Jan Jekal: Wir haben hier ja alle Abi
Wer den New Yorker abonniert, bekommt einen Jutebeutel dazu. So lässt sich das großstädtische, linksliberale Bildungsbürgertum leicht in die Welt tragen. Ich war neulich auf einem Literaturfestival, da hatte jede zweite Besucherin diesen Beutel. Wobei allein unsere Anwesenheit bei dieser Veranstaltung uns als Bildungsbürger ausgezeichnet hat, wir hätten die Beutel also gar nicht gebraucht. Aber man kann in ihnen ganz praktisch Dinge verstauen.
Mein Beutel ist neulich in der Waschmaschine eingelaufen. Ich hatte ihn so häufig getragen, dass eine Reinigung nötig war. Jetzt ist er verschrumpelt und sieht, über die Schulter geschwungen, recht albern aus. Die Bemühung um Distinktion geht nicht mehr so auf, wie ich wollte; ich bin nun nicht mehr der Typ mit dem New-Yorker-Beutel, sondern der Typ mit dem merkwürdig kleinen Beutel. Am Kotti werde ich dann auch skeptisch beäugt. Ich bilde mir ein, das Wort „Schwuchtel“ zu hören, aber vielleicht hat einer der Dealer nur mit seinem Komplizen geplänkelt.
Im Monarch tragen an diesem Abend die meisten Leute Turnbeutel. Vielleicht gibt es die bald als Abo-Prämie. Durch die fleckige Fensterfront sieht man den beleuchteten überirdischen U-Bahnhof Kottbusser Tor und die Hochbahnschiene. Würden Bahnen fahren, würde man sie von der Tanzfläche sehen, aber sie fahren ja nicht, Schienenersatzverkehr. Eine junge Frau mit gepunktetem zugeknöpftem Hemd geht auf die winzige Bühne und spielt den ersten Backing-Track ab, dröhnende Synthesizer und HipHop-Beats, und singt dann darüber, mit mächtig viel Hall auf der Stimme. Die Musikerin, die sich als „Claudia“ vorgestellt hat, wippt, wenn sie nicht singt, selbstsicher im Takt, sonst ist wenig Bewegung, die meisten sitzen auf Barhockern am Rand. Sie macht Musik, die IDM, also intelligent dance music, genannt wird, nicht EDM, electronic dance music, die in den Proletarierclubs läuft. Wir haben hier ja alle Abi.
Eine unerwartete Ansage –„Ich weiß nicht, ob ihr schon einmal einen lieben Menschen verloren habt, aber ich habe heute meine Oma verloren, und sie hätte gewollt, dass ich heute hier oben stehe, und deshalb stehe ich hier oben“ – trifft die Zuhörer unvorbereitet; mit so viel ehrlicher Emotion hat man gerade gar nicht gerechnet, also applaudiert man respektvoll und hört nun ein wenig aufmerksamer zu.
Romantischer Dance-Pop
Danach geht Chad Valley auf die Bühne, und die Stimmung ändert sich wieder. Der britische Endzwanziger (schätze ich), kräftige Statur, trägt ein Hawaiihemd und spielt romantischen Dance-Pop, ganz schön camp; Leute ohne Vertrauen in den eigenen Geschmack würden wohl „guilty pleasure“ dazu sagen. Hinter sich hat er eine Decke mit LED-Lampen gespannt, die er mit einem Pedal kontrollieren kann. Er steht, wie Claudia, allein auf der Bühne, von elektronischen Instrumenten umrundet, und es ist erstaunlich, welch mächtige Klangkulissen eine einzelne Person hervorbringen kann. Bei Chad Valley wird das auch zum Problem. Wenn jeder Song episch ist, ist es wieder keiner; es gibt keine Dynamik, keine Dramaturgie.
Er habe ein neues Album draußen und werde jetzt ein paar Lieder davon spielen, sagt er nach den ersten Stücken, und danach geht es bergab. Er macht das Gegenteil von Werbung, er warnt im Grunde vor seinem neuen Werk. Schlimme Banger sind das, EDM, nicht IDM! Da muss ich meinen New-Yorker-Beutel ganz fest halten, um wieder klarzukommen.
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