KOMMENTAR: Ausgeblendete Gegenwart
■ Senat schenkt Deutschen eine Ausstellung über Juden
Über die Notwendigkeit, sich über die Ausstellung Jüdische Lebenswelten zu streiten, kann es keinen Dissenz geben. Insofern hat der Jüdische Runde Tisch mit seiner Kritik eine Diskussion begonnen, die fortgesetzt werden muß. Eine andere Frage ist, was und wie er kritisiert. Er bemängelt, daß die Gruppen, die sich heute in Berlin für einen jüdischen Pluralismus einsetzen, sprich Adass Jisroel, Jüdische Gruppe und Kulturverein bei der Planung nicht gefragt worden seien und daß deshalb das real existierende jüdische Leben in der Stadt nicht vorkomme.
Mit dieser Sichtweise zeigen die sich mehrheitlich als oppositionell zur Jüdischen Gemeinde verstehenden Gruppen ihr größtes Defizit — einen egozentrischen Blickwinkel. Bei ihrer Kritik, nicht berücksichtigt worden zu sein, blenden sie jedoch einen viel erstaunlicheren Fakt aus. Daß nämlich das schwierige jüdische Leben in Deutschland nach 1945 in der Ausstellung überhaupt nicht vorkommt. Auch ein kompliziertes Leben ist eine Lebenswelt. So gesehen ist auch der Titel des Flugblattes »Der Senat schenkt den Juden eine Ausstellung!?« nicht nur eine geschmacklose Assoziation an Theresienstadt, sondern auch noch falsch. Wenn überhaupt, dann hat nämlich der Senat den Deutschen eine Ausstellung über die Juden geschenkt. Statt die Besucher mit Bildern der displaced persons in den deutschen Nachkriegs-Flüchtlingslagern zu quälen — auch das war jüdisches Leben —, triumphiert die Hochkultur, die guten und assimilierten Juden. Die konsequente Ausblendung des deutschen jüdischen Lebens heute ist damit als ein Eingeständnis der — auch jüdischen — Ausstellungsmacher zu interpretieren, daß es jüdisches Leben bei uns nicht mehr gebe. Wenn dem so wäre, erledigte sich die Kritik der Opposition auf eine finale Weise. Anita Kugler
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