Aus für Historiker-Zeitschrift: Würdiger Abschied des Enfant terrible

Überraschendes Ende: Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift "Sozial.Geschichte" wird die vorerst letzte sein - doch im Internet soll es weitergehen.

Das Ende überraschte dann doch. "Abschied nach 22 Jahren": So ist das Editorial des letzten Heftes überschrieben, das die Redaktion von Sozial.Geschichte produziert hat. Bis zum Jahr 2003 hieß die Publikation noch "1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts". Die damalige Umbenennung in Sozial.Geschichte ging einher mit einer Neuprofilierung, die hoffnungsfroh das neue Jahrhundert im Untertitel führte. Dieses Jahrhundert währte für die Zeitschrift nur kurz. Künftig will man wenigstens einen Webauftritt als Internetzeitschrift "Sozial.Geschichte Online" versuchen; mit der gedruckten Ausgabe ist es vorerst vorbei.

In den Geschichtswissenschaften hatte die Zeitschrift von Beginn an die Rolle des linken Enfant terrible gespielt. Von linksaußen attackierte man auf erfrischende Weise die professoralen Mandarine in der Historikerzunft, vorzugsweise die eher linksliberale sogenannte Bielefelder Schule um Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, die beide Emanzipation, Modernisierung und Fortschrittlichkeit stets im Munde führten, während sie gleichzeitig äußerst machtvoll Interessenpolitik betrieben. In dieser Konstellation zelebrierte die Redaktion um Angelika Ebbinghaus, Karl Heinz Roth und Marcel van den Linden gerne ihr Außenseitertum: Underdogs versus Establishment lautete die geschichtspolitische Schlachtordnung. Wer die einzelnen Nummern der Zeitschrift durchblättert, wird des Öfteren irritiert über manche linksdogmatische Diskussion den Kopf schütteln, die sich gerne als Tabubruch gegen den liberalen Mainstream inszeniert. Mit allen Stärken und Schwächen herrschte jedenfalls in der Zeitschrift unverkennbar das geistige Klima des linken Bremer Milieus, wo die Redaktion beheimatet war.

Dennoch liegen die Verdienste der Zeitschrift auf der Hand: Lange vor den universitären Normalhistorikern suchte man hier globale Perspektiven unter ständiger Einbeziehung der benachbarten Sozialwissenschaften. Sozial.Geschichte bot ein innovatives Forum für theoretische Experimente, deren Anstößigkeit nicht von vornherein durch die Anpassungszwänge des Wissenschaftsbetriebs abgeschliffen wurde. Mit Verve widmete man sich in den Neunzigern der wissenschaftshistorischen Aufarbeitung des eigenen Faches. Hier wurden die braunen Wurzeln der westdeutschen Sozialgeschichte nach 1945 freigelegt und die NS-Geschichte der Gründerväter Theodor Schieder und Werner Conze zu einem Zeitpunkt enthüllt, als deren intellektuelle Erben Wehler & Co. diese Verstrickungen noch kleinredeten.

Nun also stirbt dieses Zentralorgan linker Geschichtswissenschaft. Den Totenschein stellen sich die Herausgeber höchstselbst aus. Sie hat ein letztes, langes und selbstkritisches Editorial verfasst, in dem sie schonungslos die Probleme einer intellektuellen Zeitschrift heutzutage analysieren - ein online lesbares, eindrucksvolles Fanal, das in seiner Analyse weit über das Schicksal dieses kleinen Periodikums hinausreicht. Es gebe eben nicht nur einen Wandel der Wissensvermittlung in der digitalisierten Welt mit rascher Verfügbarkeit von Informationen, der die Leserzahl drastisch zurückgehen lässt. Sondern die Krise reiche tiefer: "Unsere Zeitschrift hat das soziokulturelle Milieu verloren." In diesem einst so theoriehungrigen Segment sehe es finster aus: "Im Milieu der neuen sozialen Bewegungen wird nicht mehr systematisch gelesen." Permanenter Zeitdruck und alltäglicher Überlebenskampf wären die Ursache. "Die flüchtigen, schnell erreichbaren und maßgeschneiderten Informationscluster der digitalen Medien passen besser zu diesem Alltag."

Der Konkurrenzdruck laste so stark auf den jüngeren Historikern, dass diese sich zwangsläufig nur noch auf Karriereförderndes konzentrieren könnten: also Anpassung an neueste Moden und akademische Einhegung brisanter Themen unter Ver- lust der "gesellschaftskritischen Ecken und Kanten". Es zeugt von intellektueller Konsequenz, sich unter diesen Umständen gegen ein Dahinsiechen zu entscheiden - vorläufig vielleicht, bis zu einem etwaigen gesellschaftspolitischen Gezeitenwechsel. Dieses nachdenkliche Editorial jedenfalls ist ein würdiger Abschied.

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