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Aus einer Kloake ist kein gesunder Fisch zu zaubern

Wir möchten uns gegenüber den anderen Ostseeanrainern nicht schämen müssen“, sagt der Bürgermeister von Jurmala, der Badestadt bei Riga. „Innerhalb von fünf Jahren muß die Schadstoffbelastung um die Hälfte reduziert werden. Wie? Das Problem ist die zentralisierte Wirtschaft. Das Geld, das wir verdienen, bleibt nicht hier. Nur der Dreck. Die Umweltvergiftung ist unser Hauptproblem. Wenn wir mit den ökologischen Fragen nicht klarkommen, können wir weder den Tourismus entwickeln noch sonst mit unserer Wirtschaft klarkommen.“

Die Region Riga gilt als größter Einzelverschmutzer der Ostsee. „Darf es etwas mehr sein?“ scheint die Devise zu sein, denn von jeder Art von Verschmutzung gibt es reichlich. Wegen ungeklärter Abwässer sind die Badestrände geschlossen, der Tourismus ist rückläufig. Kolibakterien als Resultat von Fäkalieneinleitungen lassen sich einfach feststellen. Wie hoch allerdings die chemische Belastung ist, bleibt offen. Staatliche Daten werden nicht veröffentlicht. Westdeutsche Umweltschützer wollen ihren lettischen KollegInnen deswegen demnächst ein Labor besorgen. Das Trinkwasser für Riga wird durch die chemische und pharmazeutische Industrie der Städte Incukalns und Olaine belastet. Dem Fluß Lielupe, der den Giftmüll in die Ostsee transportiert, gibt eine Papierfabrik in der kleinen Stadt Sloka den Rest. Er ist tot. Riga ist kein Einzelfall: In dreißig Prozent der sowjetischen Städte liegt die Trinkwasserqualität unter der Norm.

Rigas Luftverschmutzung durch die Schwerindustrie liegt bis zum Zwanzigfachen über den zulässigen Werten. Die 500 Kilometer lange Straße entlang der baltischen Küste zwischen Leningrad und Riga macht den Eindruck eines Lehrpfades in Sachen Waldsterben: Lamettasyndrom bei Kiefern und Fichten, die ihre Äste hängen lassen und ausnadeln. All das sind eindeutige Zeichen für sauren Regen. Neben der zivilen Produktion belastet ein Lager für atomaren und chemischen Müll aus Ost und West in der Stadt Baldone Luft und Wasser.

Die Hafenstadt Ventspils wird kontaminiert durch eine chemische Fabrik und Raffinerie des Amerikaners Armand Hammer (Occidental Petroleum). Eine staatliche Kommission stellte Grenzwertüberschreitungen bis zum Achtzigfache der sowjetischen Normen fest.

Säuglingssterblichkeit

und Geburtsdefekte

Am stärksten belastet sind wie immer die Schwächsten: Geburtsdefekte stiegen in den letzten zehn Jahren in Riga um das Dreifache, Schwangerschaftskomplikationen um das Zehnfache, dazu kommen Hautallergien und Bronchialasthma bei Kindern. In anderen Regionen liegt die Säuglingssterblichkeit noch höher. Hundert von tausend Kindern sterben vor ihrem ersten Geburtstag, berichtet ein lokaler Arzt vom Aralsee. Der See selbst ist so sehr geschrumpft, daß die Fischerdörfer 20 Kilometer von der Küste entfernt liegen. Die Ursache: Das Wasser wird für die Baumwollfelder umgeleitet.

Kinder fanden an der Ostseeküste scheinbar Bernstein, steckten ihn ein und mußten mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus. Es war Phosphor. Das Militär vernichtete Phosphorbomben vor der Küste, aber die festen Bestandteile wurden an Land gespült. Ostseefischer beklagen sich: „Seit Ende der 70er Jahre steigen bei uns die Fischkrankheiten, besonders sehen wir mehr Geschwüre und Flossenfäule.“ Die Verbraucher könne aber nur bei frischem Fisch die Krankheiten erkennen. Heute schwimmt in der Ostsee kein Fisch mehr, der radioaktiv nicht belastet ist. Seefisch galt immer als sauberes Lebensmittel. Aber aus einer Kloake können selbst die Kräfte der Natur keinen sauberen Fisch zaubern. Für Schwangere und kleine Kinder ist von (Ost)seefisch abzuraten. Während das Europaparlament maximal fünf Becquerel Cäsium pro Kilo für vertretbar hält, ist Seefisch nach einem Bericht des Bundesgesundheitsamts mit durchschnittlich neun Becquerel belastet.

Wieland Giebel

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