piwik no script img

Aus eigener Kraft ins Leben

Sanftere Methoden in der Frühgeborenenmedizin erhöhen die Überlebenschance  ■ Von Eva Schindele

Die einen feiern sie als gelungene Verbindung einer Rebellin und einem Schutzengel, andere sehen in ihr die naive Frau, die leichtsinnig das Leben von Frühgeborenen aufs Spiel setzt. Seit Anfang dieses Jahres der Wiener Neugeborenenmedizinerin Marina Marcovich die fahrlässige Tötung von 15 sehr kleinen Frühgeborenen zur Last gelegt wird, ist ihr Name in die Medien geraten. Und mit ihr Frühgeborene, so groß, daß sie auf eine Hand passen, mit verhutzelten und oft fremd anmutenden Gesichtern. Der radikalen Vertreterin einer sanften Neonatologie ist es zu verdanken, daß seit dieser Zeit auch der öffentliche Blick auf die „Frühchen“ ein anderer geworden ist. Sie sind nicht mehr das hinter zahlreichen Schläuchen und Kabeln verschwundene Häufchen Elend, die aus Sorge ums Überleben in Brutkästen weggesperrt werden, sondern erstmals sieht man Frühgeborene als kleine Persönlichkeiten. „Die Frühgeborenen waren unsere besten Lehrmeister“, sagt Marina Marcovich. Ihre Erfahrung aus 17 Jahren: Das frühgeborene Kind ist in der Regel besser an der Mutterbrust aufgehoben als in einem sterilen Raum. Damit lag sie nicht im schulmedizinischen Trend. „Als wir auf einem Neonatologenkongreß vor drei Jahren das erste Mal unsere guten Erfahrungen mit der sanften Methode darstellten, wurden wir belächelt.“ Heute, nachdem die Methode auch an einigen anderen Kliniken erfolgreich praktiziert wird, wird ihr vom medizinischen Establishment vorgeworfen, an der Wissenschaft und an Ethikkommissionen vorbei ihr unkonventionelles Modell entwickelt zu haben. Man versucht sie mundtot zu machen, hat die Justiz eingeschaltet und ihr vorläufig die Arbeit mit Frühgeborenen untersagt.

Die Neugeborenenmedizin setzte im letzten Jahrzehnt vor allem auf High-Tech. Anfangs auch mit Erfolg, denn noch Ende der 70er Jahre hatten Frühgeborene unter 1.500 Gramm kaum eine Chance, ins Leben zu finden. Dann wurden sensiblere Methoden der künstlichen Beatmung entwickelt. Ende der 80er Jahre kam das Mittel Surfactant auf den Markt. Surfactant öffnet die Lungenbläschen, eine Voraussetzung, damit der Sauerstoff überhaupt von der Lunge aufgenommen werden kann. Fortan beschäftigten sich fast alle Studien im Bereich der Frühgeborenenmedizin mit diesem neuen „Wundermittel“ – gesponsert von den Herstellern dieses teuren Medikaments. Immerhin kostet die einmalige Gabe des Medikaments bis zu 1.000 Mark.

Fatale Folgen

Und weil die Beatmung in der Regel so viel einfacher ging, fingen viele Kliniken an, den Frühgeborenen unter 1.500 Gramm routinemäßig Surfactant zu verabreichen und damit auch routinemäßig die Maschinerie der Beatmung in Gang zu setzen. Mit allen Konsequenzen. Denn zwar überlebten dank dieser Techniken rund 80 Prozent der Frühgeborenen unter 1.000 Gramm. Doch rund ein Drittel nur mit schwersten dauerhaften Behinderungen wie Lungen-, Hirn- und Augenschäden sowie Herzfehlern – meist als Folge wochenlanger künstlicher Beatmung. Marcovich wollte diese Entwicklung nicht so hinnehmen: „Trotz Entwicklungsdefiziten haben die Frühgeborenen viele Fähigkeiten, die von uns nur richtig gefördert werden müssen.“ Bereits im Kreißsaal werden die Weichen für einen sanften Umgang mit den „Frühchen gestellt. Abwarten sei wichtig, so die Medizinerin, und das Kind nicht gleich von der Mutter wegzerren. „Oft erzeugt erst der Schock der Trennung das ,Atemnotsyndrom‘, das die invasive Beatmung dann notwendig macht.“ Deshalb zieht sie auch die Spontangeburt dem Kaiserschnitt vor, denn auf dem Bauch der Mutter kann sich das Neugeborene in Ruhe auf die veränderten Bedingungen einstellen. „Die meisten Kinder fangen selbständig zu atmen an, deshalb ist die Gabe von Surfactant oft überflüssig.“ Auch den routinemäßigen Pieks in die Ferse, um einzelne Laborparameter zu erheben, hat sie reduziert. Sie hält die genaue klinische Beobachtung des Kindes nicht nur für schonender, sondern auch für aussagekräftiger. Bereits den Kleinsten füttert sie Muttermilch, zuerst mit der Pipette, bis die Kinder an der Brust zuzeln oder aus der Flasche trinken können. Eine Gewichtsabnahme in den ersten Tagen nimmt sie dabei in Kauf. Die Eltern werden in die Pflege mit einbezogen, so daß sie ihre Kinder schon viele Wochen früher mit nach Hause nehmen können.

Weniger Kinder sterben

Erste Statistiken zeigen, daß bei ihrer Methode bedeutend weniger Kinder schwere Behinderungen entwickeln und weniger Frühgeborene sterben. „Ihr Ansatz setzt neue Maßstäbe in der Neonatologie“, findet dann auch der Heidelberger Professor Ortwin Linderkamp. Auch auf seiner Station wird inzwischen teilweise nach Marcovichschen Prinzipien gearbeitet. Ähnlich in Berlin-Steglitz, Halle, Mainz und Augsburg. Friedhelm Porz, Oberarzt der 2. Kinderklinik des Krankenhauszweckverbandes Augsburg: „Im vergangenen Jahr mußten nur halb so viele Kinder künstlich beatmet werden.“ Außerdem ist die Sterblichkeitsrate von 33 auf 20 Prozent zurückgegangen. Während andere Schulmediziner ihrem Beispiel folgen, wartet Marcovich seit 8 Monaten auf ihre Rehabilitierung. Ende Juli wollte der Wiener Staatsanwalt das Verfahren einstellen, da er in keinem der 15 angezeigten Fälle eine strafbare Handlung vorliegen sah. Da schaltete sich der österreichische Justizminister höchstpersönlich ein. Die Anweisung: Weiterermitteln in 6 Fällen! Dies ist in Österreich bei „Strafsachen mit besonderem öffentlichem Interesse“ möglich. Als „Unglaublichkeit“ und „Rechtsbeugung“ wertet Christa Gruber vom österreichischen Familienselbsthilfeverein „Kinderbegleitung“ dieses Vorgehen. Schließlich wäre jetzt gerade das kompetente Votum der Neugeborenenmedizinerin gefragt, denn im Herbst soll die Neonatologie in Wien neu geordnet werden. „Sie wollen sie einfach kaltstellen, damit sie ihre Techno- Tempel verwirklichen können“, so vermutet Gruber. Um diesem „abgekarteten Spiel“ doch noch einen Strich durch die Rechnung zu machen, rufen Eltern- und Fraueninitiativen zu einer Demonstration für den 22. September in Wien auf. Ihre Forderung: die sofortige Wiedereinsetzung von Marina Marcovich als Frühgeborenenärztin.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen