■ Aus der guten alten Zeit: Urahnen des dualen Systems
Ein Müllproblem im heutigen Sinne kannten die Städter vor der industriellen Revolution nicht. Plastik war unbekannt, Tageszeitungen hatten sich noch nicht durchgesetzt, Konservendosen wurden erst seit 1812 hergestellt. Mit neuen Abfallstoffen dann kamen Bemühungen auf, den Müll zu nutzen und gegebenenfalls zu sortieren.
Die frühe Müllentsorgung war mit der Abwasser- und Fäkalienentsorgung weitgehend identisch. Was nicht in die Flüsse gekippt wurde, wurde aufs Land gebracht, wo Bauern die fast ausschließlich organischen Abfälle als Dünger nutzten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts aber herrschte dann regelrecht Müllnotstand. Die Städte begannen zu wuchern; in Berlin verdreifachte sich die Einwohnerzahl zwischen 1820 und 1880. Die lohnabhängigen Bewohner der Mietskasernen hatten keine Möglichkeiten zur traditionellen Vorratshaltung mehr. Auf der anderen Seite machte die industrielle Verarbeitung von Lebensmitteln bessere Verpackungen für weite Transporte nötig.
Ab den 1880er Jahren geriet das Müllproblem ins Visier der Hygienebewegung. Dem 1873 gegründeten Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege ging es keineswegs um ökologische Fragen, sondern darum, „die Leistungsfähigkeit der ganzen Bevölkerung zu sichern.“ Es dauerte trotz aller Bemühungen noch bis 1893, bis Berlin eine geschlossene Kanalisation besaß.
Nun trat eine neue Schwierigkeit auf: wohin mit den festen Haushaltsabfällen, wenn sie nicht mehr einfach mit den flüssigen weggeschwemmt beziehungsweise den Bauern angedient werden konnten? In England ging man schon ab 1870 den Weg der Müllverbrennung. In Deutschland erwies sich dies als wenig praktikabel, weil aufgrund seines hohen Ascheanteils der Müll ohne Zugabe von Brennstoffen kaum brannte. Billiger und einfacher war es, den Müll weiter auf die Felder auszubringen oder schlicht zu deponieren.
Welche Freude Zeitzeugen daran hatten, ist in einer Studie der TU Berlin dokumentiert: „Wenn Sie im Frühling eine Reise machen, erkennen Sie das Nahen einer größeren Stadt zuerst an den Äckern, welche mit städtischem Kehricht gedüngt sind. Überall blinken Ihnen Scherben entgegen, dazwischen sehen Sie Conservenbüchsen, Stücke von Reifröcken, von Corsets, von Sprungfedern, zerbrochene Kämme und dergleichen, die Hecken und Raine hängen voll Papier- und Lumpenfetzen.“ Immerhin gab es ab 1893 in Berlin geltende Mindeststandards für den Betrieb von Müllablagerungsplätzen – der Anfang geordneter Deponien.
Dennoch machte man sich auch damals schon darüber Gedanken, wie man den Müll denn verwerten könnte. So wurde es als Nutzbarmachung und sogar Verschönerung von moorigem Ödland gepriesen, Müll dort auszubringen, und die so aufgeschüttete Kulturlandschaft landwirtschaftlich zu nutzen.
Doch gab es ab der Jahrhundertwende auch erste Kompostieranlagen. Diese Verwertung setzte sich nicht durch und wurde während der Herrschaft der Nazis, die auf Wiederverwertung setzten, eingestellt. Selbst heute werden nur etwa 2,5 Prozent des Hausmülls kompostiert.
Noch fortschrittlicher war Charlottenburg, damals noch nicht nach Berlin eingemeindet. Dort gab es schon ab 1907 ein System der Mülltrennung. Asche, Küchenabfälle und sperrige Abfälle wurden in den Hinterhöfen in dreierlei Kisten — heute würde man Container sagen — gesammelt und einer Wiederverwertung zugeführt. Doch – auch hier drängen sich die Parallelen zum heutigen Dualen System auf – das System litt an finanziellen Schwierigkeiten. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde es eingestellt. Nicola Liebert
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