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Archiv-Artikel

Aus der Tiefe des Raums

An schönen Tagen wird die niederrheinische Niers zum Ausflugsziel. Bierselige Jugendliche paddeln neben Ausflüglern im Familienboot. Stören können da nur Horden von langbeinigen Spinnen

Bierkästen werden klammheimlich vom Ufer an Bord genommen„Jesus muss auf dem See Genezareth recht langsam gewirkt haben“

von LUTZ DEBUS

Von der Autobahn aus betrachtet sieht die Gegend grün, platt und langweilig aus. Nördlich von Krefeld beginnt der Niederrhein. Kühe und Kappes. Aber von der Autobahn aus betrachtet sehen viele Gegenden langweilig aus. Wagt man einen Ausflug in die Tiefe des Raumes, ändert sich das Bild. Von der Abfahrt Uedem/Kevelaer an der A 57 sind es etwa fünf Kilometer bis zu der Querung des Flüsschens Niers. Was sich unter dieser kleinen Brücke an sommerlichen Wochenenden abspielt, ist enorm. Im Minutentakt fahren Geländewagen vor. Auf deren Anhängern stapeln sich Paddelboote, Ruderboote, Schlauchboote, Kanadier und Kajaks.

Von weitem sieht es aus wie in einer Fabrik. Hier eine Schlange wartender Touristen, dort eine Schlange wartender Boote. Direkt am Ufer werden beide Komponenten zusammen gefügt und auf das Wasser gesetzt. Die meisten Freizeitkapitäne wirken mit den staksigen Bewegungen ihres Rudergerätes zunächst recht unbeholfen. Nur die ausgebildeten Wassersportler befreien sich zügig mit gekonntem Paddelschlag aus dem Pulk erholungswilliger Menschen. Mit ihrem Tempo, so mutmaßen neidische Familienväter, werden die davon eilenden Kajakfahrer sicherlich am Mittag schon die Nordsee erreichen. Die Mehrzahl der Gekommenen benutzt zweisitzige Paddelboote aus Plastik. In der Mitte, in einer Tonne wasserdicht verstaut, gibt es Platz für Gepäck. Doppelwandig sind die Schiffchen unkaputtbar und unsinkbar. Nur die Passagiere könnten beim Kentern nass werden. Schwimmwesten oder Rettungsschwimmer sind nicht nötig. Die Niers ist selten tiefer als ein Meter.

Nachdem die Eilenden hinter der ersten Biegung verschwunden sind, gewinnen auch die anderen Wasserfahrzeuge an Fahrt. Ordentliche Paddler führen das Feld an. Dann kommen die etwas Unbeholfeneren. Das Schlusslicht bilden die massigen Schlauchboote. Eines davon legt unweit des Startes wieder an. Bierkästen werden klammheimlich vom Ufer an Bord genommen, bis die Wasserkante dem Bootsrand gefährlich nahe kommt. „Die Mitnahme alkoholischer Getränke ist nicht erwünscht“, heißt es auf der Internetseite eines Bootsverleihs. Die Seefahrer in jenem Schlauchboot allerdings machen den Eindruck, als wollen und können sie diesem Wunsch nicht nachkommen. Mit kurzen Hosen, nacktem Oberkörper und bunten Hütchen könnte die Besatzung auch einen verspäteten Vatertagsausflug zelebrieren.

Hinter den nun eifrig trinkenden männlichen Mitvierzigern dümpelt ein zweites Boot mit entsprechender weiblicher Crew. Statt Bier gibt es auf diesem Schlauchboot Prosecco aus Plastiksektflöten. Dazu intonieren die Damen den der Situation entsprechenden Schlager von Wencke Myhre. Obwohl, die Gummiboote sind nicht knallrot, sondern grau. Da allerdings in den lärmenden Booten höchstens eine Person rudert und eine kreiselnde Bewegung verursacht, kommt die singende und trinkende Versammlung nur zögerlich voran. Die geringe Fließgeschwindigkeit der Niers ermöglicht es den auf dem Uferweg wandernden Rentnern, sich von den Partyschiffen abzusetzen.

Weiter flußabwärts paddelt ein Vater mit seinem Achtjährigen. Detailliert erklärt der Diplombiologe seinem Sohn das Ökosystem. Libellen, kameradschaftlich im Zweierpack vorbeisurrend, sind mit ihren türkisblauen Flügeln zu bestaunen. Auf einem ruhigen, ufernahen Areal krabbeln die Wasserläufer, grazile Insekten, die die Oberflächenspannung der Niers ausnützen und mit ihren fettigen Füßen übers Wasser flitzen können. Jesus muss auf dem See Genezareth dagegen recht langsam gewirkt haben. Die Niers schlängelt sich inzwischen durch eine urwaldartige Busch- und Baumlandschaft. Immer wieder ist der Bewuchs so dicht, dass man durch einen grünen Tunnel treibt. Am Ufer ranken Brombeerbüsche ins Wasser. Mit Bienenfleiß sammeln eifrige Kinderhände die Ranken ab. Das scheint gar nicht so einfach zu sein. Der hinten Sitzende muss mit geschickten Ruderschlägen das Boot in Position bringen, der vorne Sitzende lehnt sich weit über die Bootskante, um zu den stacheligen Zweigen zu gelangen. Aber die Mühe lohnt sich. Dunkelrote Münder künden von saftigen Erträgen.

Plötzlich sind gellende Schreie zu hören. Eine Familie wollte, um auf einer Wiese ein Picknick zu machen, mit ihrem Schlauchboot am strauchbestandenen Ufer anlanden. In jenem Moment, als das Boot die Büsche berührte, enterten unzählige große, schwarze, langbeinige Spinnen das Boot und seine Besatzung. Nicht nur, um solche Erlebnisse vorzubeugen, sollte man nur auf den ausgewiesenen Rastplätzen halt machen. Das Biotop würde durch zu viele Menschenfüße Schaden nehmen.

Nach dem Abschnitt, in dem der Fluss natürlich durch die Landschaft meandert, folgt eine Strecke, die die landschaftsbaulichen Sünden der vergangenen vierzig Jahre offenbart. Schnurgerade fließt die Niers durch das flurbereinigte Weichbild. Und plötzlich verschwindet sie unter der Autobahn. Karl Heinz Stockhausen hätte an diesem Konzertsaal der besonderen Art seine Freude gehabt. Drei Seiten nackter Beton, eine Seite leicht bewegtes Wasser. Kinder rufen: „Wer ist der Bürgermeister von Wesel!“ Zwar antwortet kein Echo „Esel!“, aber das Soundergebnis klingt doch sehr spacy. Vielleicht sollte das zuständige Fremdenverkehrsbüro die Möglichkeit in Betracht ziehen, Chorkonzerte auf Schlauchbooten unter dieser Brücke zu veranstalten.

Nach knapp fünf Stunden Fahrt tauchen an den Uferböschungen die ersten Häuser von Goch auf. „Endlich wieder in der Zivilisation“, schnauft ein beleibter Ruderer. Das feuerrot lackierte Rad der alten Wassermühle spiegelt sich in der nun eher bräunlichen Suppe der Niers und ist ein echter Blickfang.

Nur dumm, dass genau an dieser Stelle seemännisches Geschick nötig und solch eine Ablenkung sehr hinderlich ist. Hier teilt sich die Niers in zwei Arme. Die Altstadt von Goch ist eine Insel im Fluss. Nur ein kleines Schild kündet von dem richtigen Kurs. Nach links geht es zum Bootsanleger. Wer rechts fährt, landet vermutlich am Ende wirklich in der Nordsee. Am Steg warten bereits die Geländewagen mit ihren Anhängern, um die ankommenden Boote zu verstauen. Wann wohl die kreiselnden Trunkenbolde Goch erreichen werden? Einer der Bootsverleiher erzählt, dass er am Vortag bis 22 Uhr auf die letzten Nachzügler warten musste. Dabei benötige man für die 16 Kilometer auf dem Fluss doch bestimmt nicht zwölf Stunden.