: Aus der Horde
Philip Roths brillanter Vater-Roman „Mein Leben als Sohn“ ■ Von Tilman Krause
Müßten wir unsere Eltern nicht eigentlich umbringen? Können wir überhaupt je erwachsen — das heißt selbständig, unabhängig, autonom — werden, solange sie leben? Oder haben wir sie als Instanzen unseres Über-Ichs so stark verinnerlicht, daß sie selbst nach ihrem Ableben noch unser Schicksal bestimmen? Sind sie so sehr Teil von uns, daß sie erst mit unserem eigenen Ende untergehen? Nützt uns also vielleicht — zugespitzt formuliert — ihr Tod gar nichts, weil unsere Eltern, zumindest solange wir selber leben, unsterblich sind? Der Schriftsteller Philip Roth, der in zahlreichen Romanen das komplizierte Geflecht jüdischer Familienkonstellationen der amerikanischen Mittelschicht gestaltet hat, ist der Brutalität dieser Fragen bisher aus dem Weg gegangen und hat es bei der oft komischen Schilderung und exakten Beobachtung von familiärer Gruppendynamik belassen. Durch die Erfahrung des langsamen Todes seines eigenen Vaters jedoch hat er sich ihnen schließlich gestellt. „Eine wahre Geschichte“ nennt sein deutscher Verlag denn auch die autobiographische Auseinandersetzung mit dem „väterlichen Erbe“, dem „Patrimony“, wie der Titel der amerikanischen Originalausgabe lautet. Das Wort meint mehr als nur das, was dem Sohn an materiellen Gütern vom Vater überlassen wird. Es umfaßt die gesamte Überlieferung, für die der Vater als Mensch, Mythos und Modell kultureller wie sozialer Identität steht. „Mein Leben als Sohn“ hat Roths hervorragender deutscher Übersetzer Jörg Trobitius den Bericht überschrieben und damit einerseits auf die enge Beziehung dieses Textes zu Roths fiktionalem Werk hingewiesen — „Mein Leben als Mann“ heißt eines seiner bekanntesten Bücher —, andererseits aber auch die Frage nach der Autonomie durch diese Titelwahl beantwortet: Philip Roth hat — jedenfalls bis zur Abfassung von „Patrimony“ — zunächst einmal und vor allem anderen das Leben eines Sohnes geführt.
„Ich komme aus der Horde, die keinen Schlag austeilen kann. Wir sind nicht so, wir bringen es nicht fertig, weder gegen unsere Väter noch gegen sonst jemanden. Wir sind Söhne, die Entsetzen empfinden angesichts von Gewalt, die nicht dazu fähig sind, jemandem körperliche Schmerzen zuzufügen. Wir haben Zähne, wie sie auch die Kannibalen haben, doch eingebettet in den Kiefer, dienen sie uns dazu, uns besser zu artikulieren. Wenn wir Unheil anrichten, wenn wir etwas auslöschen, dann nicht mit wütenden Fäusten (...), sondern mit unseren Worten, unseren Hirnen, mit all dem Zeug, das den quälenden Abgrund zwischen unseren Vätern und uns hervorgerufen hat und das zu geben sie sich den Rücken krumm gemacht haben.“ So setzt sich der Erzähler ab von einem Taxifahrer, der ihm auf einer längeren Autofahrt durch Manhattan anvertraut, daß er sich väterlicher Bevormundung durch Gewalt entledigt habe. Doch befreit hat ihn dies nicht, muß der Intellektuelle auf dem Rücksitz feststellen, während er sich zur Intensivstation chauffieren läßt, wo sein eigener Vater wegen eines Gehirntumors liegt: Der Mann da vor ihm wirkt vielmehr unsicher und hat das Gesicht eines Babys. Doch Philip Roth hätte ohnehin, selbst wenn dies sein Wunsch gewesen wäre, die Ablösung von der väterlichen Sphäre nicht radikal und abrupt vollziehen können. Schon dem heranwachsenden Studenten war bewußt, daß der Vater, aller Verschiedenheit von Erzeuger und Sohn zum Trotz, auch in ihm saß: „Jeder Kurs, den ich belegte, und jede Seminararbeit, die ich schrieb, vergrößerte die geistige Kluft, die zwischen uns immer breiter geworden war. (...) Dennoch gab es viele Monate lang nichts, was mein vernunftbegabtes Selbst hätte tun können, um das Gefühl der Verschmelzung mit ihm abzuschütteln (...), die leidenschaftliche, wenn auch verrückte Überzeugung, daß er irgendwie in mir wohnte und ich seinen Intellekt zusammen mit dem meinen entdeckte.“
Diese Verschmelzung ist nicht nur eine Tatsache, sie ist offenkundig auch ein Verlangen. Je mehr sich der altersbedingte, soziale und kulturelle Abstand zwischen dem Versicherungsvertreter Hermann Roth, dem Kind armer jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, und dem erfolgreichen, assimilierten amerikanischen Schriftsteller Philip Roth vergrößert, desto drängender wird auch das Bedürfnis, Nähe zu erleben und damit der partiellen Identität von Vater und Sohn ihren adäquaten Ausdruck zu verschaffen. Dieser Prozeß gehört zu einer Selbstbegegnung, die dem über 50jährigen anscheinend erst zuteil wird, während er das langsame Sterben seines Vaters beobachtet. Meisterhaft schildert der Erzähler diese allmähliche Annäherung, zeichnet behutsam die einzelnen Stationen eines immer weitere Bereiche umfassenden Rollentausches nach, zeigt, wie er dem Greis in seiner Hinfälligkeit — dem Menschen also — nahekommt, um dann am Schluß, nach des Vaters Tod, sich emphatisch zu ihm als Mythos zu bekennen. Das Buch endet mit einem Traum, den der Autor folgendermaßen deutet: „Der Traum sagte mir, daß ich, wenn schon nicht in meinen Büchern oder in meinem Leben, zumindest in meinen Träumen ewig als sein kleiner Sohn leben würde, (...) so wie er dort lebendig bleiben würde, nicht nur als mein Vater, sondern als der Vater, der zu Gericht sitzt über alles, was ich tue.“ Diese beklemmende Vision eines alttestamentarischen Gottvaters vermag der Überlebende nur zu ertragen, weil er den Pantokrator schwach gesehen hat, abhängig von ihm selbst, dem treusorgenden Pfleger, und weil er weiß, daß die Kraft der Vater-Imago teilweise übergegangen ist auf ihn selbst.
Was für ein Mensch ist nun aber dieser Hermann Roth, den im Alter von 86 Jahren plötzlich eine Lähmung der linken Gesichtshälfte befällt und dessen zunehmender körperlicher und seelischer Verfall minutiös vor dem Leser ausgebreitet wird? Der rüstige Greis erschien soeben noch als Inbegriff des Patriarchen, in resoluter Hingabe seiner Familie zugetan, von unermüdlicher Arbeitskraft, ein Macher und Aktivist, unangefochten durch Selbstzweifel, nicht gewohnt, seine Entscheidungen oder gar seinen Charakter in Frage zu stellen. Auch die Krankheit kann ihn zunächst nicht erschüttern. Mit der gleichen zähen Kraft, die er brauchte, um sich als Jude in feindlicher Umwelt zu behaupten, ist er bereit, sich auch diesem letzten Überlebenskampf zu stellen. Der Rückblick auf sein langes Leben, sein phänomenales Gedächtnis für die Geschichte jener jüdischen Kolonie, die in Newark, unweit Manhattans, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts dem amerikanischen Traum nachjagt, halten ihn aufrecht. Respektvoll überläßt der Sohn diesem „Barden von Newark“ hin und wieder den Vortritt als Autor und läßt ihn Episoden aus der erweiterten Familiengeschichte erzählen, die diesen Text mäanderhaft durchziehen.
Der Lebenskraft und Unerschütterlichkeit des Vaters steht die innere Unruhe des Sohnes gegenüber. Er ist es, den die Nachricht vom „massiven Tumor“, der das Gehirn des Vaters befallen hat, völlig aus der Bahn wirft. Langsam dämmert ihm die Einsicht, daß seine Verstörung mit Angst vor Selbstverlust zu tun hat, und mit dem ihm eigenen Sinn für Symbolik interpretiert er seinen eigenen Herzinfarkt, den er erleidet, als auch der Zustand des Vaters in die kritische Phase eintritt, als stellvertretenden, vorweggenommenen Tod seines Lebensspenders. Er versucht, die fünffache Bypassoperation, der er sich nun unterziehen muß, vor dem alten Herrn geheimzuhalten. Der erfährt schließlich doch davon und ist erbost, daß man ihn hat „schonen“ wollen.
Hermann Roth verzichtet bis an sein Ende nicht auf die ihm angestammte Rolle. Mag Sohn Philip noch so sehr seine eigenen Beschützerinstinkte ihm gegenüber entfalten, mag er ihm körperlich auch noch so nahe kommen und den Sterbenden in seiner Kreatürlichkeit umsorgen — das Stadium verantwortungsvoller Souveränität eines Vaters vermag er nicht zu erreichen. „Phil ist wie eine Mutter zu mir“, entfährt es dem Alten denn auch einmal. Und tatsächlich, der Sohn bringt es „nur“ bis zur Mutterrolle. Seiner übertriebenen Fürsorge fehlt die innere Distanz. Seine Art, sich um den kranken Vater zu kümmern, ist vom Bedürfnis nach Symbiose gekennzeichnet, ist eine Behandlung, die er mehr sich selbst angedeihen läßt als dem hilfsbedürftigen Alten.
Dieses Buch löst zwiespältige Gefühle im Leser aus, eine Reaktion, wie sie der Ambivalenz des Lebens selbst angemessen ist. Doch der Zwiespalt wird in der Schwebe gehalten durch die Erzählkunst Philip Roths. Die Balance von Selbstverständigung und Selbstanklage, Liebe und Haß, Würdigung und Abrechnung, von Rollenspiel und Verschmelzungssehnsucht ist perfekt. Das Ganze wirkt bei aller Bedrängnis gelöst, ja heiter. Dafür sorgen schon die komischen Einlagen, die einmal mehr den Humor des großen Menschenkenners Philip Roth bezeugen. Dieser legt hier das einzigartige Dokument einer Lebens- und Identitätskrise vor. Aber ist nicht das ganze Leben — so legt dieser Bericht nahe — eine einzige Krise?
Philip Roth: „Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte“. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius, Hanser Verlag, 1992, 216Seiten, 34DM.
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