■ Aus dem Tagebuch von Wam Kat: Windeln in den Bäumen
Tirana, 9. Juli: Ich genoß gerade meinen Morgenkaffee, als ein Herr mit einer Gruppe Studenten zu mir herauf kam. Er stellte sich als Professor Soundso vor, Leiter der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Tirana. Er erklärte mir, wieviel er von meiner Organisation gehört habe und nun hoffe, daß seine Studenten in diesem Sommer für uns arbeiten könnten. Wenn jemand so früh vorbeikommt – es war gerade acht Uhr morgens –, kann man nur schlecht reagieren. Ich fragte ihn, was seine Studenten denn tun könnten. Bei der Unicef habe er gehört, war seine Antwort, daß wir die einzige Organisation seien, die hier in den Lagern arbeite, und er habe seine Studenten gut darauf vorbereitet. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß wir nur deswegen die letzte hier verbliebene Organisation sind, weil wir im letzten verbliebenen Flüchtlingslager des Landes arbeiten. Sein Blick war überrascht. Er wollte das gar nicht glauben. Vor zwei Wochen sei er noch in Vlora unten gewesen und habe die vollen Lager gesehen.
Er ist nicht der einzige Albaner, der noch nicht richtig bemerkt hat, wie sehr sich die Lage in den letzten zwei Wochen verändert hat. Noch eine Organisation rief heute morgen an, mit derselben Botschaft: Studenten seien bereit, in den Sommerferien in den Lagern zu helfen, in etwa zwei Wochen könne man die erste Gruppe schicken. Später fragte ich die Albaner, die in unserem Büro arbeiten, ob sie wüßten, daß die meisten Flüchtlinge nach Hause zurückgekehrt sind. Das hatten sie in der Zeitung gelesen. Dann fragte ich sie, ob sie auch wüßten, daß die meisten Lager leer sind. Das hatten sie weder im Fernsehen gesehen noch in der Zeitung gelesen. Jetzt, da ich ich es ihnen sagte, erschien es ihnen nur logisch. Aber von selber wären sie nie darauf gekommen.
Tirana, 10. Juli: Manchmal habe ich das Gefühl, am Drehbuch für ein billiges amerikanisches B-Movie zu sitzen. Die Story ist so mies und gespickt mit Vorurteilen, daß ich sie auch wie Karl May hätte zu Hause schreiben können. Man muß nur an B-Movies denken. Wenn man noch jede Menge Schießereien und extra brutale Gewalt hinzugibt, glaubt kein Mensch, daß man hier lebend wieder herauskommt.
Die letzte Nach war stürmisch. Das Gewitter vom Nachmittag hatte eine seltsame Spannung in der Luft zurückgelassen. Schwer zu sagen, was genau es war, aber es war da, als ob die Elektrizität auf die ganze Stadt übergesprungen sei. Um halb zwei hatte irgend jemand das Gefühl, daß es unbedingt nötig sei, Gewehrsalven in die Luft zu feuern – vielleicht 50 Meter von hier entfernt, vielleicht noch näher, ich konnte ihn nicht sehen, weil ein Haus dazwischen steht. Die Schießerei dauerte mindestens zehn Minuten. Niemand schoß auf irgend jemanden, nur Kugeln in die Luft, aus Gründen, die ein ewiges Rätsel bleiben werden.
In Deutschland hätte man danach sofort Polizeisirenen gehört. Hier wachten nur die Hunde und ein paar Hähne auf, obwohl wir gleich neben der Polizeistation wohnen.
Eine Gruppe von Freiwilligen hat heute noch einmal das Combinat-Krankenhaus besucht. Gestern waren sie mit solchen Geschichten und Bildern von dort zurückgekehrt, daß man nur hoffen kann, kein Kind möge an einem solchen Ort enden. Das Gebäude zerfällt, in der Kinderabteilung liegen die Babys in Betten für Erwachsene nebeneinander auf Laken, die nur selten gewaschen werden. Die besseren Ärzte sind schon vor Jahren ausgewandert, um besser bezahlte Arbeit zu finden – nicht unbedingt als Arzt, selbst Straßenkehrer werden im Ausland besser bezahlt.
Im ganzen Hinterhof liegt der Abfall herum, auch Windeln und Verbände. Einer unserer Freiwilligen beschrieb, daß die Bäume damit wie mit Weihnachtsschmuck behängt sind. Wahrscheinlich wird das Zeug einfach aus den Fenstern geworfen. Heute wollte die Gruppe diese Bäume fotografieren, als plötzlich wenige Meter neben ihnen eine Schießerei begann, mitten auf dem abgesperrten Gelände des Krankenhauses. Ein Wärter rannte herbei, ebenfalls um sich schießend. Irgend jemand blieb tot liegen. Die Freiwilligen dankten ihrem Schutzengel, daß sie für das Foto stehengeblieben waren. Sonst wären sie mitten in das Gefecht gelaufen. Das ist es, was ich meine: Kein Mensch würde einen solchen Film für glaubwürdig halten. Wam Kat ‚/B‘Wam Kats vollständige Tagebücher sind im Internet in englisch unter www.ddh.nl/org/balkansunflower/ abrufbar.
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