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Aus dem Kreis heraus

Ziemlich viel los in Peter Handkes Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, das jetzt an der Berliner Schaubühne gespielt wird: Tarzan, Yuppies, Skateboardfahrer, Jogger, Basketballer, Kellner, Clochards, Idioten  ■ Von Elke Schmitter

„Also, das Bühnenbild weckt ja Urlaubsgelüste“, sagte der Mann hinter mir, und damit hatte er beinahe recht: die würfelförmigen Wüstenbauten, der leere Platz am Meer mit Baseballkorb, der ruhende ägyptische Windhund als Mittelplastik, das Blau des Firmaments: ganz schön soweit. Aber der Wind zog doch enorm, das abgestellte und halb eingepackte Auto am Bühnenrand schien an die Zeit zu mahnen, die trotzdem nicht vergehen will – und der insgesamt vage Himmel mit den gelblichen Streifen ließ vollends an eine Wüstenruhe vor dem Sturme denken: Und so sollte es dann ja auch kommen.

Zuerst aber treten allerhand Leute auf: ergehen sich in Gebärden, die auf erhöhte motorische Unruhe schließen lassen, oder vollführen nicht ohne Anmut eine Reihe sinnloser Tätigkeiten. Feuerwehrmänner, Tänzerinnen, Handwerker gehen mit der leeren Fröhlichkeit eines Bildes von Léger ihren Beschäftigungen nach und reizen zur erstaunten, abwartenden Gluckserei – jedenfalls all jene, die noch nicht wissen, was hier gespielt wird.

Wir sehen islamisch anmutende Frauen mit Einkaufswagen, einen Rollschuhfahrer, einen geschäftigen Kellner, eine begeisterte Sekretärin, einen Clochard und Idioten, einen krauchenden, schwer atmenden Jogger, diverse sportlich federnde Läufer, eine Gruppe Bergwanderer, verschiedene Liebes- und Tanzpaare, einen Skateboardfahrer, ältere Frauen mit Stroh auf dem gebeugten Rücken, Yuppies mit Handtelefonen, einen Spaziergänger und schließlich eine Gruppe Passanten, die das Auto öffnet, aus dem prompt weitere Gestalten steigen; all das läuft auf den ersten sinnträchtigen Laut des Stückes hinaus: Oh!

Dann kommt ein gutgekleideter Herr und holt eine ebensolche blinde Dame ab, und dieselbe öffnet ein Buch. Inzwischen sind ein Tag und eine Nacht vergangen an diesem Ort, der nichts für sich hat, außer (wie Peter Bichsel über Ohio schrieb) daß der liebe Gott einmal die Hand aufmachte und sagte: Das ist jetzt hier.

Es folgen ein Tarzan, ein Mann, der den Müll wegfegt, verschiedene unspezifische junge Frauen, Basketballspieler, männliche Passanten, Kopfstehende, Eilige, eine tanzende Abendgesellschaft, ein darin an Herzinfarkt Sterbender... Die Personen spielen ihre Rolle parallel und ohne Kontext, das macht sie komisch: Der eine packt sein Businessköfferchen aus, die andere geht im Ballerinenschritt, die dritte macht gymnastische Übungen; schließlich marschiert ein Trupp Flugpersonal rigide durchs Bild, Polizisten grüßen sich, Straßenräuber gehen ihren Geschäften nach, Banditen werden verfolgt...

Und hin und wieder kommt dieser singende, grimmige Wind wieder auf, der alles zum Pfeifen bringt (auch die Männer und Frauen). Hin und wieder nehmen dieselben aufeinander Bezug; dies meist überraschend, wenn nicht gar absurd: Eine Frau zerrt dem Manne die Kleider vom Leib und miaut den nächsten bittend um dasselbe an; ein älterer Herr mit Spazierstock ficht mit diesem Instrument eine Wandergruppe zurück, deren Mitglieder sich auch – ganz funktional und normal, auf die ihren stützt; ein Mann schlägt einen anderen mit einer Pampers- Packung nieder –.

Einige sammeln Münzen, andere werfen sie fort; einige spielen, andere spielen sich zu Tode: Wäre es nicht ein Stück von Handke, dann dächte man: Das ist die Gesellschaft in der Totale, der die Arbeit ausgegangen ist und die sich mit Geschäftigkeit darüber tröstet, daß es wahrhaftig nichts mehr zu tun gibt. Aber weil es Handke ist und wir es also besser wissen (denn nichts interessiert diesen Dichter weniger als die Sozialdemokratie), bleiben wir ohne Abschweifung im Bilde, das immerhin ständig wechselt: Denn plötzlich fehlt die Mitte, nach einem kleinen Donnerschlag und Dunkelheit ist die ägyptisch ruhende Plastik zur Seite gezogen. Einer sprengt mit Wasser den Beton, von ferne erklingt der Radetzkymarsch... Und dann erst kommt der zweite – und letzte – sinnvolle Laut: Oh, Gott!

Schließlich stehen über dreißig Leute da und staunen in den Himmel, dann kracht es, und Urwaldtöne werden laut, in Folge ein Glockengebimmel: meta-physische Töne, zu denen die Anwesenden ein gotisches Gebäude bilden, auf dem – also auf deren – Rücken eine Frau in Weiß entlangschreitet und – schwebt... Aber keiner will der Ur-Erweckung folgen, die da in Gestalt eines farbigen Paares in bunten Tüchern auftaucht und winkt. Lieber schaut man einem Alten im schwarzen Rock beim Stammeln zu und gibt ihm das frischgeborene Kindelein in den gebrächen Arm, auf daß ein großer, leicht irrer Jubel beginne. Und dann rennt das gesamte Personal noch minutenlang aufgescheucht, aufgestört, aufgehetzt über die Bühne – bis wieder alles von vorn beginnt, zu dem sanft erklingenden Liede, das heißt: „It's summer again...“

In diesem Stück von Peter Handke gibt es keinen gesprochenen Satz, es besteht nur aus Beobachtungen, aus Regieanweisungen, aus Andeutungen von Szenen. Regisseur Luc Bondy und die SchauspielerInnen haben erreicht, daß man bald schon keinen Satz mehr vermißt, daß man sich aufs Schauen verläßt: wie in jenen Viertelstunden beim Warten auf einen Zug, da man die Zeitungen zur Seite legt und sich der schwebenden Aufmerksamkeit ergibt, die nichts mehr will und sich nichts mehr beweisen muß, also sprach- und schriftlos bleiben kann.

In einem Gespräch mit Peter von Becker sagte Handke, daß er den Verwischungen mißtraue, die sich zwischen gesprochener und Schriftsprache in der modernen Literatur ergeben haben. Aber, heißt der Einwand, die mündliche Überlieferung war doch der Beginn von allem: „Homer war ein Dichter, aber kein Schriftsteller.“ „Ja“, sagt Handke daraufhin, „vielleicht schließt sich der Kreis. Oder der Kreis fault einfach.“

Peter Handke: „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“. Regie: Luc Bondy, Dramaturgie: Dieter Sturm, Bühne: Gilles Aillaud. Co-Produktion der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, mit dem Festival d'Automne Paris. Die nächsten Aufführungen sind heute, am 8.2., 10. bis 13.2. und 15. bis 16.2.

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