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Archiv-Artikel

Aus Not wurde Störung

Eli Zaretsky hat das interessanteste Buch zum 150. Geburtstag Sigmund Freuds verfasst: eine schöne Bilanz des psychoanalytischen Jahrhunderts. Die neue Zeit habe für diese Erbschaft kaum noch Sinn

VON JAN FEDDERSEN

Der New Yorker Kulturwissenschaftler Eli Zaretsky schätzt das Werk Sigmund Freuds über alles – und seinem Buch „Freuds Jahrhundert“, in dem er die Geschichte der Psychoanalyse aufblättert, ist dies auch anzumerken. Er stellt seinem schriftlichen Horizont ein Zitat Jacques Donzelots aus dessen Schrift „Die Ordnung der Familie“ voran – kein Zufall, denn es birgt erkenntnistheoretisch alles, was begriffen werden muss, um die Moderne, ja noch mitten in der Selbstaufklärung, auszuloten: „Fern der unmittelbaren Rationalität der politischen Diskurse stellte sie (die Psychoanalyse) den Gegenpol, die dunkle Kehrseite unserer Gesellschaften dar, eine rätselhafte Gestalt, zu der sich die Orakel neigen, um in der Tiefe die Regungen unseres kollektiven Unterbewussten, die verschlüsselte Botschaft unserer Zivilisation zu lesen.“

Gut gewählt ist dieses Motto, in ihm kann das Freud’sche Erbe erkannt werden: eine Lehre, die der kapitalistischen Vernunft, ihrem tilgenden Zugriff auf alles, was nicht marktförmig scheint, ein Bewusstsein vom Unabgetragenen, eben vom Subjektiven entgegensetzt. Zaretsky arbeitet sich an der Erfolgsgeschichte des Freudianismus ab – und glaubt, dass er trotz der zwischenzeitlichen Hipness seiner Kategorien („Ödipus“, „Zwangsneurose“, „Unbehagen an der Kultur“) Ende der Sechzigerjahre, ihre charismatische Ära mit dem Sieg der völkischen Regime am Ende war. Bis Ende der 20er-Jahre habe die Psychoanalyse – im Grunde waren es ja ihre Anfangsjahre – stark von sich reden gemacht; und alle damit affiziert, die Literatur, die bildende Kunst, das Reden, das Nachdenken, die Musik, das Kino. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Beginn der echten westlichen Moderne, habe die Psychoanalyse ihre Perspektive eingebüßt: Der moderne Mensch habe bürgerlich ohne große Tragödien werden können. Freud und sein analysierter Abschied vom Göttlichen, vom Religiösen, in dem kein höheres Wesen mehr Verantwortung übernehmen muss, weil dies nur der Mensch selbst könne: Das habe es den Menschen nicht einfacher gemacht – nun mussten sie ihre Freiheit selbst verantworten, und die neue Lehre vom Subjektiven deutete die inneren Verwerfungen, die aus der Qual erwuchsen, mündig sein zu müssen. Denn nicht überall sei Markt, nicht alles könne auf den Markt getragen werden – das sei das Spannende am Unbewussten.

Aber der emanzipatorische Wert dieser Erfahrungswissenschaft habe verloren, weil der kapitalistische Prozess selbst sich der psychoanalytischen Techniken gern bedient habe: die Werbung vor allem, die sich auch um die letzten sexuellen Prüderien nicht scherte. Sex, früher eine Not, ist nun für alle okay – aber hört damit das je einzelne Verstörtsein, um nicht zu sagen: Leiden auf? Insofern ist Zaretsky, der aller Mäkelei zum Trotz ein sehr verständiges Buch geschrieben hat, zu pessimistisch: Die Nachfrage ist nach wie vor groß genug – nur dass es heute meist nicht um Sex geht, der die Menschen irre macht, sondern um narzisstische Störungen, fehlende Anerkennung oder allzu starke Anpassungsfähigkeit an das Tempo und den unverbindlichen Stil des Gesellschaftlichen.

Kann ja sein, dass Freuds Überlieferungen nicht mehr die Magie vom Aufbruch verströmen, in den entwickelten kapitalistischen Ländern bestimmt nicht. Aber andere Welten, andere Traumen, andere Formen des kollektiven Unterbewussten, des je persönlichen Haderns: Kapitalismus ist ein globaler Strom und die Psychoanalyse ihr Treibholz – unvermeidlich. Luft holen kann man überall, wo es psychischen Klärungsbedarf gibt, um die Geburt zum modernen Individuum, frei von Familienzwang und Religionsfuror, zu bewältigen. Und sei es auf einem Sofa.

Eli Zaretsky: „Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse“. Zsolnay, Wien 2006, 39,90 Euro; alle Schriften von Sigmund Freud sind beim S. Fischer Verlag erschienen, jüngst auch „Das Lesebuch“, 480 Seiten, 12 Euro