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Aus Le Monde diplomatiquePakistan findet seinen Feind

Spät, aber mit wachsendem Aufgebot, kämpft Pakistan gegen die Taliban ums Überleben. Ein Kommentar aus Lahore

Die frauenfeindliche Auslegung der Scharia stößt auf Widerstand Bild: ap

Im Mai hat die pakistanische Armee endlich eine großangelegte Militäroffensive im Swat-Tal in der von Taliban durchsetzten nordwestlichen Grenzprovinz Pakistans gestartet. Paramilitärische und reguläre Truppen griffen die Stellungen und Kampfgruppen der Taliban mit Panzern, Artillerie, Granatwerfern, Helikoptern und Bombern an. Die Armee meldete bis zum 6. Juni etwa 1200 getötete Talibankämpfer, die Zahl der gefallenen Soldaten bezifferte sie auf unter 100. Nach Angaben der internationalen Hilfsorganisationen sind bereits zwei Millionen Menschen aus der Kriegszone geflohen - das ist die größte Vertreibung von Zivilisten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Armee behauptet, sie habe die Taliban in die Flucht geschlagen und weite Landstriche zurück erobert. Selbst der US-Sonderbeauftragte Richard Holbrooke meint, damit sei den Taliban-Kräften in Pakistan das Rückgrat gebrochen. Generalstabschef Ashfaq Kayani will die Militäroperation binnen ein, zwei Monaten beendet haben. Danach werde man die gewaltige Aufgabe der Stabilisierung und des Wiederaufbaus angehen, damit die Flüchtlinge zurückkehren können, ohne erneut die Taliban fürchten zu müssen.

Zyniker weisen darauf hin, dass die lange aufgeschobene Militäroperation just in dem Moment begann, als Präsident Asif Zardari zum Staatsbesuch in Washington weilte. Dort wurden dem angeschlagenen Regime für die nächsten zwei Jahre 1,9 Milliarden Dollar zur Bekämpfung des Terrorismus und als wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung und dazu 600 Millionen Dollar Militärhilfe zugesagt. Denn die Regierung Obama setzt auf eine neue Strategie für die Region und drängt die pakistanische Regierung seit längerem zu einem schärferen militärischen Vorgehen gegen die Taliban.

Wann immer General Pervez Musharraf, der Pakistan von 1999 bis 2008 regierte, zu Verhandlungen über Wirtschaftshilfen und militärische Unterstützung nach Washington reiste, hatte er ein Mitbringsel dabei: einen gerade ergriffenen Al-Qaida-Funktionär oder eine kleine Militäraktion gegen die Taliban in einer entlegenen Stammesgegend. Die US-Regierung war verärgert, als Zardari entgegen allen Versprechungen am 28. Februar eine "Friedensvereinbarung" mit den Taliban im Swat-Tal unterzeichnete, die im März im Parlament abgesegnet wurde.

Dieser Artikel ist aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique Bild: lmd

Doch das hatte, wie von einheimischen und ausländischen Kritikern vorausgesehen, lediglich zur Folge, dass die Taliban ihren Einflussbereich dreist in die angrenzenden Distrikte Buner und Lower Dir ausdehnten, wo sie auch neue Kämpfer rekrutierten. Ihr Vormarsch war so rasant, dass sie bis auf 100 Kilometer an Islamabad heranrückten und den strategische Karakorum-Highway einnahmen, der Pakistan mit China verbindet. In aller Welt wuchs die Befürchtung, die Regierung könnte auseinanderbrechen und das Land in einem Bürgerkrieg versinken, so dass die Befehlsgewalt über das strategische Nuklearwaffenarsenal nicht mehr in sicheren Händen wäre.

US-Präsident Barack Obama, Außenministerin Hillary Clinton, Verteidigungsminister Robert Gates, Generalstabschef Michael Mullen, Centcom-Chef General David Petreaus und Abgesandte des US-Kongresses machten den Präsidenten Pakistans und Afghanistans, Asif Zardari und Hamid Karsai, zwei Dinge unmissverständlich klar: Erstens müsse in den bilateralen Beziehungen fortan eine formelle Rechenschaftspflicht gelten, das heißt, jede künftige wirtschaftliche und politische Unterstützung setze klar definierte Fortschritte im gemeinsamen Kampf gegen al-Qaida und die Taliban in Afghanistan und Pakistan voraus.

Zweitens versuchte man den beiden durch Korruption und Misswirtschaft diskreditierten Präsidenten klarzumachen, dass sie endlich ihre innenpolitischen Versprechen einlösen müssen, sich also vor allem mit der Opposition im eigenen Land auszusöhnen haben, um im Bündnis mit ihren Nachbarn und internationalen Freunden den Kampf gegen einen Feind aufzunehmen, der die gesamte Region in Anarchie und Bürgerkrieg zu stürzen droht. Denn was am 11. September 2001 als Krieg von al-Qaida und Taliban gegen die Vereinigten Staaten begann, ist zu einem Krieg im Innern Afghanistans und Pakistans geworden.

Das zu begreifen, hat man in Pakistan bedenklich lange gebraucht. Dabei tragen die pakistanischen Medien die größte Verantwortung für die systematische Irreführung der Öffentlichkeit, für die enorme Sympathiewelle gegenüber den Taliban und die Feindseligkeit gegenüber der Zardari-Regierung und ihren Kampf gegen die Islamisten.

Vor allem die noch jungen elektronischen Medien neigen zu selbstgerechten Meinungs- und Gefühlsexzessen. Aus Opposition um der Opposition willen erklären sie alles, was die Regierung tut, für prinzipiell falsch, heuchlerisch oder irregeleitet (was auch ihrem kommerziellen Erfolg dient). Die religiös-nationalistische Tendenz in den Medien rührt von den islamistischen Kampagnen der 1980er- und 1990er-Jahre, die sich auch in den Schulbüchern niederschlugen, die den "islamischen Dschihad im indisch besetzten Kaschmir" und den Hass zwischen den "zwei Nationen" der Muslime und Hindus predigten. Dieser Geist erfasste den gesamten Alltagsdiskurs. Dazu gehörte ein Antiamerikanismus, der sich aus der Ungerechtigkeit der US-Politik gegenüber Muslimen im Allgemeinen und gegenüber Pakistan im Besonderen speiste: Als die USA 1989 mit dem Rückzug der UdSSR aus Afghanistan ihr strategisches Ziel in der Region erreicht hatten, ließen sie "Pakistan über Nacht fallen". Zudem sorgten CNN und andere Satellitensender dafür, dass die Irakkriege und die palästinensischen Intifadas live in alle Wohnungen gelangten.

Pakistans "freie Medien" entfachten 2007 eine Welle der Solidarität mit den Terroristen der Roten Moschee im Herzen Islamabads (die zu einer Art mittelalterlichen Helden im Kampf gegen die USA stilisiert wurden) und brachten damit Armee und Regierung in die Defensive. Dieselben Medien stellten auch den aktuellen Krieg als einen "Krieg Amerikas" dar, indem sie die aberwitzige Vorstellung verbreiteten, Taliban und al-Qaida würden sich bei einem Rückzug der USA aus der Region in Luft auflösen, worauf alle Beteiligten wieder friedlich zusammenleben würden. Und schließlich unterstützten diese Medien auch die gefährlichen Friedensverträge mit den Taliban, vor allem das Abkommen im Swat-Tal vom 28. Februar. Damit verschafften sie den Taliban den politischen Spielraum und das öffentliche Prestige, die diesen die Eroberung weiter Teile der Nordwestprovinz ermöglichten.

Zum Glück haben inzwischen drei Ereignisse dazu beigetragen, dass sich die öffentliche Meinung wendet. Das erste war die öffentliche Auspeitschung eines jungen Mädchens im Swat-Tal Anfang März, die auf allen Fernsehkanälen gezeigt und von den Taliban gegen den Widerstand selbst der Religionsgelehrten aus anderen Landesteilen als "islamischer Akt" gerechtfertigt wurde. Das löste eine Welle des Abscheus aus und entlarvte ihre Interpretation der Scharia als ein engstirniges, hinterwäldlerisches Sektierertum, das sich hinter dem Banner des Islam versteckt.

Zweitens zogen die Wortführer der Taliban alles in den Schmutz, was den Medien wie der Zivilgesellschaft heilig ist: die pakistanische Verfassung, den Rechtsstaat, die Zivilgesellschaft, Demokratie, Wahlen und persönliche und institutionelle Freiheiten, die sie durchweg für zutiefst unislamisch erklärten. Und die Drohung der Taliban, den Medien einen Maulkorb anzulegen und sie gemäß ihrer Lesart der Scharia für ihre Verfehlungen zu bestrafen, versetzte auch die Journalisten in Angst und Schrecken.

Drittens sind die Flüchtlinge, die heute aus den von Taliban besetzten Gegenden der zentral verwalteten Stammesgebiete und aus der Nordwestprovinz in die Auffanglager strömen, so zornig und verbittert, dass die Medien nicht darüber hinwegsehen können. Wobei sich die Wut gegen Armee und Regierung richtet, die sie zuerst den Taliban ausgeliefert hat und dann nach Beginn der Militäraktion nicht in der Lage war, sie ausreichend zu schützen.

Pakistan sollte diese existenzielle Zäsur nutzen und seine Position im In- und Ausland und seine nächsten entscheidenden Schritte überdenken.

Dazu folgende Überlegungen: Zunächst einmal müssten Opposition, Regierung, Armee und Medien in diesem Krieg am selben Strang ziehen. Da ist Pakistan auf einem guten Weg, denn inzwischen hat auch die größte Oppositionspartei, die Muslimliga unter Führung des ehemaligen Premierministers Nawaz Sharif, die Militäraktion öffentlich gutgeheißen. Dabei ist es das Verdienst der USA, dass Sharif dazu gebracht wurde, die Politik der Regierung gegen die Taliban zu unterstützen. Denn sie haben Zardari klargemacht, dass der von Musharraf 2007 abgesetzte oberste Richter Iftikhar Mohammed Chaudhry wieder in sein Amt zurückkehren müsse. Der wieder eingesetzte Chaudry hat es Sharif ermöglicht, eine Nachwahl anzufechten und einen Sitz im nationalen Parlament anzustreben.

Zweitens setzen die USA Afghanistans Präsident Karsai unter Druck, seine gegen Pakistan gerichtete Politik aufzugeben und die moderaten propakistanischen Paschtunen in sein politisches System einzubinden, um die Sicherheit Pakistans an seiner Westgrenze zu erhöhen. Karsai soll bereits Kontakte mit dem früheren Mudschaheddin-Chef Gulbuddin Hekmatyar angeknüpft haben, der von Pakistan unterstützt wird.

Drittens muss Indien eine generöse Lösung des anhaltenden Streits mit Pakistan anstreben, damit die Angst und das Misstrauen Pakistans gegenüber seinem anderen Nachbarn abgebaut werden und Islamabad sich auf den inneren Feind konzentrieren kann. Doch bislang zeigt sich Delhi nicht besonders kompromissbereit und verlangt etwa von Pakistan als Vorbedingung für einen Frieden die Zusicherung, keinen Terrorismus nach Indien zu exportieren. Das aber ist unmöglich, da Pakistan selbst Opfer dieses Terrorismus ist.

Deshalb zögert die pakistanische Armee immer noch, Truppen von der Grenze zu Indien abzuziehen und gegen die Taliban an der afghanischen Grenze einzusetzen. Zudem scheint die Armee nicht bereit zu sein, ihre Einschätzung der von Indien ausgehenden langfristigen Gefahr zu ändern. Dies wäre aber die Voraussetzung dafür, dass die Wahrung der inneren Sicherheit - und nicht der äußeren - zur wichtigsten Staatsaufgabe wird. Es steht zu hoffen, dass die neue indische Regierung in diesem Punkt ihre Haltung ändert und sich ohne jede Vorbedingung auf neue Friedensgespräche mit Pakistan einlässt.

Der vierte Punkt ist wohl der schwierigste: Das Flüchtlingsproblem muss generalstabsmäßig angepackt werden. Premierminister Yousaf Raza Gilani hat jüngst erklärt, bei den Kämpfen im Swat-Tal gehe es um "das Überleben Pakistans". Aber selbst wenn der Staat militärisch siegt, könnte er am Ende doch noch unterliegen, weil ihm die Krise in den Flüchtlingslagern der Nordwestprovinz über den Kopf wächst.

Als die Provinzregierung die Einwohner der betroffenen Gebiete zum Verlassen ihrer Häuser aufforderte, um freies Feld für die Militäroffensive gegen die Taliban zu haben, zog die Bevölkerung bereitwillig ab. Doch die Einweisung in die hastig errichteten Flüchtlingslager waren eine schockierende Erfahrung für sie. Mehr als eine Million Menschen sind in der letzten Kampfphase geflohen; zusammen mit den früheren Flüchtlingen ergibt das eine Gesamtzahl von zwei Millionen.

Für deren Versorgung hat die UNO bisher 250 Millionen Dollar (von zugesagten 550 Millionen) bereitgestellt, die USA 300 Millionen Dollar. Von der EU dagegen kam noch nichts.

Pakistan braucht aber Milliarden, um diese humanitäre Kreise bewältigen zu können. Was noch schlimmer ist: Mangels vernünftiger Organisation und Expertise bekommt Pakistan die Situation nicht in den Griff. Man hat weder aus den Erfahrungen nach dem Erdbeben von 2005 in Asad Kaschmir und in Teilen der Nordwestprovinz gelernt, noch von der dreißig Jahre andauernden Flüchtlingskrise im Gefolge der Kriege in Afghanistan.

Den ersten in den Lagern von Swabi und Mardan eingetroffenen Flüchtlingen ist es erbärmlich ergangen. Da sie aus einer kalten Gegend stammen, litten sie vor allem unter der Hitze von an die 45 Grad im Schatten. Die Lager waren auf offenem Feld errichtet und Schatten boten nur die Zeltplanen. Es gibt kein sauberes Trinkwasser, das die Flüchtlinge in der sengenden Hitze am dringendsten brauchen. Am härtesten trifft es die Kinder, aber in den Lagern gibt es keinerlei medizinische Versorgung. Selbst die Aufnahme gestaltet sich schwierig. Jede Familie muss einen Ausweis ausgestellt bekommen, bevor sie Leistungen in Anspruch nehmen kann. Hunderte stehen vor einem einzigen Beamten Schlange, um sich registrieren zu lassen. Bis heute sind noch nicht einmal 500.000 Personen registriert. Allein das macht das Ausmaß des Elends deutlich. All dies wäre vermieden worden, wenn der militärische Aktionsplan detaillierte Vorkehrungen für die Versorgung der Vertriebenen getroffen hätte. Aber nichts dergleichen war vorgesehen.

Der "nationale Konsens" gegen die Taliban ist erfreulicherweise inzwischen so breit, dass er die neue Strategie trägt. Aber das Leid der Flüchtlinge wird nicht nur den Taliban in die Hände spielen, es könnte auch diesen Konsens untergraben.

Die Taliban sind zunächst in Deckung gegangen. Aber sie schlagen auch zurück, mit Selbstmordattentaten in Lahore, Peshawar und Islamabad. Damit wollen sie die Sicherheitskräfte demoralisieren und die Öffentlichkeit kriegsmüde machen. Doch das hat bislang Gott sei Dank nur das Gegenteil bewirkt. Den Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen hat fürs Erste die pakistanische Armee gewonnen, die sich jetzt in den Nordwestgrenzprovinzen (NWFP) und in den Stammesgebieten (Fata) auf Dauer festsetzt, um die Sicherheit der Menschen zu garantieren. Doch die pakistanische Regierung, die Armee und die internationale Gemeinschaft stehen jetzt vor der schwierigen Aufgabe, diese Gebiete langfristig zu stabilisieren und wieder aufzubauen.

Das Schicksal Afghanistans hängt heute davon ab, dass Pakistan diese Aufgaben bewältigt. Nur dann kann die Bedrohung durch die Taliban ein für alle Mal beseitigt und die al-Quaida aus ihren Rückzugsgebieten in den Bergregionen der pakistanischen Stammesgebiete vertrieben werden.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Le Monde diplomatique Nr. 8907 vom 12.6.2009, Seite 5

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3 Kommentare

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  • F
    FrederikeMK

    Sorry, taz, aber die Tendenz in diesem Artikel stimmt nicht. Auf Drängen der USA führt Pakistan Krieg gegen seine eigene Bevölkerung. Wundere sich keiner, wenn die Pakistani diese Regierung eines Tages weg haben wollen.

  • WD
    Winfried Dinter

    "Pakistan findet seinen Feind".

     

    Da wurde nun irgendwo eine junge Frau ausgepeitscht.

    Von den Taliban??

    Wenn man bedenkt, daß durch die von der amerikanischen Regierung ausgehaltenen pakistanischen Militärs und besonders durch amerikanische "Drohnen" hunderte von Mädchen

    und Frauen g e t ö t e t werden,

    ist das Ganze doch wohl ein Witz.

     

    Mensch, taz-Männer - ihr solltet euch wirklich besinnen. Oder haben bei euch Frauen á la

    unsere Bundeskanzlerin inzwischen die Macht

    übernommen? Gott behüte uns davor!

     

    Winfried aus dem hinteren Breisgau.

     

     

    Haben bei euch

  • S
    Slick

    das pakistanische Militär ist ein Staat im Staat und von bisher kaum einer pakistanischen Regierung voll kontrollierbar gewesen (auch nicht unter Muscharaf). Es gibt innerhalb der Armee eine hohe Infiltration von Islamisten und Taliban, von der hohen Korruption ganz zu schweigen.

    Daher waren auch bisher alle Abkommen zwischen Indien und Pakistan kaum von langer Dauer, da es innerhalb der pak. Armee Kräfte gab und gibt, die eigene Interessen verfolgen.

    Die pak. Regierung muß erstmal Ihren eigenen Stall ausmißten und ihre Armee vollständig unter Kontrolle bringen.

    Nur dann ist ein effektives Vorgehen gegen die Taliban möglich. Denn bisher sind die meisten Aktionen nicht mehr als Alibi-Handlungen gewesen um den Westen (USA) mit falschen Tatsachen zu besänftigen.